«Am ersten Tag verstand ich nur Bahnhof»

Wer geht heute noch ins Reisebüro? Billette kauft man am schnellsten online oder per App. Nur wer Gutes tun möchte, macht den Umweg ins Reisebüro. Ist ja wie mit Slow Food. Da kauft man gerne die doppelt so teuren, dafür unförmigen Rüebli. Also wieso nicht in den sauren Apfel beissen und für das Bern-retour-Billett in alter Manier anstehen?

Regula Fischer, Geschäftsführerin des Bahnhofreisebüros Wipkingen, sieht der Zukunft gelassen entgegen.
Zügig: Im Bahnhofreisebüro Wipkingen steht man nicht lange an.
Zug um Zug – das Bahnhofreisebüro Wipkingen hält sich seit 1997 wacker.
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Ab ins Reisebüro! Nicht in irgendeines, sondern in jenes am Bahnhof Wipkingen. Dass dieses überhaupt noch steht, ist schon eine Reise wert. Denn 1972 überliess die SBB den Bahnhof Wipkingen seinem Schicksal. Dort fristete er ein kümmerliches Dasein, bis 1993 der Verein IG Bahnhof Wipkingen gegründet wurde. Später führte die SBB das Stationshaltermodell ein, das den privaten Billettverkauf in stillgelegten Bahnhöfen ermöglichte. 1997 eröffnete dann Max Welti das Bahnhofreisebüro. Heute ist das Bahnhofreisebüro eine Aktiengesellschaft. Die Aktionärinnen und Aktionäre kommen praktisch alle aus dem Quartier.
Und so stehe ich nun am linken Schalter an und spitze die Ohren. «Ein GA bitte», höre ich vorne. «Ab wann denn?» «Ab morgen. Oder nein, doch erst ab übermorgen.» Et voilà: Operation GA erfolgreich abgeschlossen. Man stelle sich dasselbe online vor! Zehntausend mal neustarten, vertippen, Passwort vergessen. Der Ärger wäre algorithmisch genau vorprogrammiert. Eine digitale Odyssee!

Auf den Hund gekommen

2011 übernahm Regula Fischer die Geschäftsleitung des Bahnhofreisebüros. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. «Ich weiss noch genau, da ist eine Frau hereingekommen und wollte ein Hunde-GA. Ich habe nur ‹Bahnhof› verstanden und sie gebeten, doch morgen nochmals zu kommen.» Und am nächsten Tag war das Hunde-GA bereit und alle glücklich: «Das gibt eine schöne Kundenbindung.» Noch immer schätzen die Kunden den persönlichen Kontakt. Auf die Frage, wie sich denn ein Reisebüro im digitalen Dschungel des «Survival of the Fittest» über Wasser halten könne, meint Regula Fischer: «Es ist ein Nischenprodukt geworden. Im Zuge der Automatisierung hat das, was wir hier machen, wieder an Wert gewonnen. Es ist einfach eine andere Qualität, wenn jemand ‹Guten Morgen› sagt. Ausserdem gibt es auch heute noch Kunden, die sich mit der digitalen Technologie schwer tun und den persönlichen Service schätzen.»
Kerngeschäft ist der Verkauf von Billetten, GAs und Halbtax-Abos. Die Abwicklung von Gruppenreisen wird unkompliziert erledigt und auf internationale Billette keine Auftragspauschale erhoben: «Da spart man schon mal zehn bis 40 Franken», meint Regula Fischer. Nichtsdestotrotz: Es ist ein knallhartes Geschäft geworden. Seit die SBB die Provision auf den GA-Verkauf gekürzt hat, sei es noch schwieriger geworden. Ein Glücksfall, als die Verkaufsstelle der Deutschen Bahn an der Militärstrasse Ende 2014 die Tore schloss und das Bahnhofreisebüro Wipkingen den Vertrieb der Bahnprodukte übernehmen konnte.

David gegen Goliath

In regelmässigen Abständen trumpft die SBB beim Bahnhofreisebüro mit einer Überraschung auf. Da ist die Kürzung der Provisionen auf den GA-Verkauf. Der neue SwissPass, mit dem künftig GA und Halbtax-Abos automatisch verlängert werden. Der neueste Gag der SBB, jedoch noch Zukunftsmusik, ist das Modell «zuerst fahren, dann zahlen». All diese Neuerungen bedeuten für Regula Fischer und ihr Frauenteam weniger Kundschaft. Bitter war auch, als nach der Eröffnung der Durchmesserlinie im Juni 2014 drei S-Bahnen gestrichen wurden. Mittlerweile hält nur noch die S24 in Wipkingen – alle dreissig Minuten. Das findet nicht nur Regula Fischer nicht lustig, die das direkt in der Kasse spürt. Auch die Wipkinger Bevölkerung fühlt sich auf dem Abstellgleis. Deshalb startete der Quartierverein Wipkingen 2014 eine Petition und sammelte 6’384 Stimmen. Das Ziel ist eine weitere S-Bahn-Verbindung, damit die Züge ab Bahnhof Wipkingen im Viertelstundentakt fahren.
Auch Regula Fischer setzte sich für die Petition aktiv ein und legte im Reisebüro Unterschriftenbögen auf: «Wir waren ja sozusagen an der Quelle.» Gleich am Tag nach der Reduktion der S-Bahnlinien organisierte sie mit drei Frauen der SP und AL einen Flash-Mob auf dem Perron. «Das waren dann gegen hundert Leute, die frühmorgens mit Trillerpfeifen und Transparenten ausgerüstet dieses Abnabeln von Wipkingen auf sympathische Weise beklagten.»
«Zur Zeit läuft eine Prüfung beim Bundesamt für Verkehr, ob der Regionalexpress von Chur über den HB via Wipkingen bis an den Flughafen verlängert werden kann», so der Präsident des Quartiervereins Wipkingen, Beni Weder, über den Stand der Dinge. Er selber sieht die Zukunft des Bahnhofreisebüros nicht bedroht, denn «mit der im Dezember 2015 wieder eingeführten Verlängerung der S24 an den Flughafen benutzen merklich mehr Leute den Bahnhof Wipkingen wieder.»
Auf künftige Geschäftsideen angesprochen, antwortet Regula Fischer: «Seit ich hier arbeite, also ziemlich genau seit fünf Jahren, bin ich mir die ganze Zeit am Überlegen, was man sonst noch machen könnte.» Neben dem Verkauf von Billetten, Abos und den Produkten der Deutschen Bahn werden so auch ein DHL-Service angeboten oder Reisebücher und Postkarten verkauft, sogar kopieren kann man im Reisebüro. Damit sammelt man zwar Sympathiepunkte, schreibt jedoch keine schwarzen Zahlen.

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