Paradigmenwechsel in der Quartierentwicklung

Die Zeit der grossen stadtplanerischen Würfe ist vorbei. Die Erfahrung zeigt, dass gute Quartierentwicklung von der Mitwirkung aller betroffenen Akteure abhängt.

Quartierentwicklung als Miteinander, von oben und, wie hier beim Parkplatz Letten, von unten.
Mit der provisorischen Pétanque-Bahn wurde die Umgestaltung des Röschibachplatzes initiiert.
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Gemäss Bundesgesetz über die Raumplanung, «erarbeiten Bund, Kantone und Gemeinden die für ihre raumwirksamen Aufgaben nötigen Planungen und stimmen sie aufeinander ab». Das ist eine komplexe Aufgabe, denn es gilt eine Vielzahl von Grundsätzen und gesetzlichen Vorlagen zu berücksichtigen. So müssen die natürlichen Lebensgrundlagen wie Wasser, Luft und Wald geschützt und die Ausdehnung der Siedlungen durch verdichtetes Bauen beschränkt werden, um nur zwei dieser Grundsätze zu nennen. Es ist deshalb sinnvoll, dass ein Teil der Quartier- und Stadtplanung von Experten der Stadt oder des Kantons übernommen wird.

Mitwirkung der Bevölkerung

Es findet sich im Bundesgesetz aber auch der Artikel 4, der besagt, dass die Behörden über Ziele und Ablauf der Planung zu unterrichten haben, und die Bevölkerung die Möglichkeit haben muss, bei Planungen mitzuwirken. Die Stadt und der Kanton kennen verschiedene Arten der Umsetzung dieses Artikels: Auf der tiefsten Stufe der Mitwirkung steht das rein informative Verfahren. Etwas mehr Einfluss erlaubt das Vernehmlassungsverfahren, bei dem Interessierte Einsicht in die Pläne und Informationen erhalten und Einwände platzieren können, so geschehen beim Projekt Rosengartentram und -tunnel. Schliesslich gibt es noch das Mitwirkungsverfahren, wie es beim Röschibachplatz angewendet wurde, bei welchem die Vertreter der Quartierbevölkerung tatsächlich ein Projekt mitentwickeln können. Solche Mitwirkungsverfahren bedürfen kompetenter Personen auf beiden Seiten, soll die Mitwirkung nicht als «blosse Alibiübung» dienen. Es ist wahrscheinlich die anspruchsvollste Form der Mitwirkung. Aber sie kann verhindern, dass Stadt und Investoren an der Bevölkerung vorbeiplanen und in der Folge von Rekursen und Einsprachen blockiert werden, oder ihre umgesetzten Reisbrettentwürfe künstlich belebt werden müssen. Hier liegt der Schlüssel zu einer erfolgreichen Quartierentwicklung: Im richtigen Verhältnis zwischen Planung «von oben» und Mitwirkung «von unten». Eine aufgeklärte und nachhaltige Stadtplanung bedingt den Einbezug der Bevölkerung, um den Gemeinsinn zu fördern.

Flanieren und Kaffeetrinken

Der italienische Architekt und ordentliche Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich, Vittorio Magnago Lampugnani, spricht immer wieder davon, dass man in einer Stadt «flanieren» können muss. Diese Einsicht klingt banal und der Begriff des Flanierens mutet veraltet an, leuchtet aber intuitiv ein: Die Lebensqualität eines Quartiers zeigt sich daran, ob das Leben auch auf der Strasse stattfinden kann. Dazu braucht es einerseits die Stadt, die die Infrastruktur zu Verfügung stellt, andererseits braucht es eben auch das örtliche Gewerbe, Vereine und private Initianten – um alles zu beleben. Temporäre Nutzungen wie der «Garte über de Gleis» ermöglichen wichtige Vernetzungen, damit ein Quartier lebendig bleibt und sich erneuert. Ein solches Projekt setzt einen soziologischen Prozess in Gang, welcher das Miteinander fördert. Neue Kontakte entstehen, der Nährboden für weitere Projekte ist gelegt. Es findet im übertragenen Sinn eine ständige gesellschaftliche Erneuerung und Durchmischung statt. Die Stadt beginnt zu leben.
Auch der neue Röschibachplatz ist das Endergebnis einer kleinen und einfachen temporären Nutzung: 2009 stellte der Quartierverein aus einer Unzufriedenheit heraus erstmals eine Petanque-Bahn auf den Platz. Gleichzeitig erhob er Daten über die Frequentierung und den Verkehr und machte die interessante Erfahrung, dass Vandalismus ausblieb. Die Aktion wiederholte sich während mehrerer Jahre, bis man genügend Fakten gesammelt hatte, um sie der Stadt zu präsentieren und einen Umgestaltungsprozess zu erwirken. Der neue Röschibachplatz wurde zur Plattform für weitere Entwicklungen wie dem Frischwarenmarkt, dem Flohmarkt oder der Weihnachtsbeleuchtung, Institutionen und Installationen also, die zur Lebendigkeit eines Quartiers beitragen.

Die Kunst der kleinen Schritte

Der Vorteil eines Quartiervereins gegenüber städtischen oder kantonalen Behörden sind seine flachen Hierarchien, welche schnelle Entscheidungen und Umsetzungen ermöglichen. Die Nähe zur Quartierbevölkerung ermöglicht es, dass er nahe an deren Puls ist und auf Rückmeldungen schnell reagieren kann. Veränderungen können in kleinen Schritten ─ «step by step» ─ implementiert und vor allem auch rückgängig gemacht werden, ohne dass es als Scheitern angesehen wird. So bleibt alles in Bewegung. Behörden stehen in dieser Hinsicht politisch und finanziell unter Druck, Massnahmen müssen sofort sichtbaren Mehrwert erzielen. Scheitert ein grosser Wurf, wird nicht selten gleich das Kind mit dem Bad ausgeschüttet, und die Entwicklung kommt zum Stillstand. In anderen Fällen werden Projekte, aus Angst zu scheitern, gar nicht erst angegangen. In der heutigen Zeit ist es wichtig, Projekte zu gestalten, die sich modulieren lassen, sodass man reagieren kann, wenn Teile davon nicht funktionieren, und nicht zwanzig Jahre auf einer Fehlkonstruktion festsitzt. Beispiele für solche «Planungsinvalide» gibt es leider genügend.

Voraussetzung: Zentrale Anlaufstelle beim Amt

Die Initianten der temporären Nutzung «Parkplatz Letten» mussten in den vergangenen Monaten die Erfahrung machen, wie langsam und mühsam die städtischen Mühlen mahlen können. Viel Zeit und Ressourcen gingen für die Umsetzung des Projekts verloren, weil immer wieder neue Auflagen dazu kamen und Bewilligungen bei verschiedensten Ämtern eingeholt werden mussten. Der Ausdruck «temporäre Nutzung» impliziert bereits, dass nicht unbeschränkt Zeit für deren Umsetzung zur Verfügung steht. Temporäre Nutzungen sollten auch nicht den gleichen rechtlichen Bedingungen unterliegen wie dauerhafte Bauten. Um eine erfolgreiche Quartierentwicklung «von unten» zu ermöglichen, wäre es deshalb wichtig, eine zentrale, ämterübergreifende Koordinationsstelle zu haben, welche den Personen, die sich engagieren wollen, gebündelte Auskunft darüber geben kann, welche Ämter angegangen werden müssen und welche Bewilligungen benötigt werden.

Ein Gesamtpaket

Wie könnte also eine ideale und erfolgreiche Quartierentwicklung aussehen? Es muss zu einer Selbstverständlichkeit werden, dass es sowohl Entwicklung «von oben» als auch «von unten» gibt. und dass diese ineinandergreifen. Alle Akteure können Einfluss nehmen. Die Stadt und Investoren tun gut daran, die Bevölkerung über ihr Vorgehen zu informieren, in Zeiten des Internets und der Sozialen Medien ist alles andere kontraproduktiv und entspricht nicht dem heutigen Zeitgeist. Wer sein Handeln offenlegt und begründet, stösst auf Verständnis. Ausserdem kann so vermieden werden, dass ein Projekt nach jahrelanger Planung im stillen Kämmerchen vom Volkswillen abgeschmettert wird. Aber auch die Bevölkerung, jede und jeder einzelne, ist gefordert. Denn alle können selber aktiv werden. Oft sind es kleine Veränderungen, die zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen. Die Wahrnehmung der Eigenverantwortung ist die Grundlage für den Fortschritt, für eine gesunde Stadt- und Quartierentwicklung.

Als Planer hat man oft das Gefühl, man könne alles steuern, doch das stimmt nur bedingt, denn die Entwicklung verläuft nicht linear. Sie ist vielschichtiger. Es gilt, die verschiedenen Anforderungen aufeinander abzustimmen und ein Nebeneinander verschiedener Gruppen zu ermöglichen. Dadurch erst kann die Durchmischung gewährleistet werden, die so wichtig ist für ein gesundes Quartier. Und ist das Interesse der Bevölkerung einmal geweckt, tragen sie die Ideen der Planer im Alltag weiter. Das mag ideologisch klingen, aus einem ganzheitlichen Standpunkt betrachtet ist es das aber nicht. Denn vom Mehrwert, der durch eine nachhaltige Quartierentwicklung entsteht, profitiert jeder Einzelne und letztendlich die ganze Stadt.

Benjamin Leimgruber

Über den Autor:
Benjamin Leimgruber hat an der ETH Zürich Architektur studiert. Mit seiner Frau Valérie und der langjährigen Mitarbeiterin Andrea Speirer führt er das Büro Leimgruber Architekten in Zürich und zeichnet für Neu- und Umbauten sowohl im privaten wie im öffentlichen Bereich verantwortlich. Er lebt in Wipkingen und ist im Vorstand des Quartiervereins zuständig für das Ressort Verkehr und Städtebau.

 

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