Das modernste Schulhaus der Schweiz

Vor 90 Jahren baute die Stadt Zürich das Schulhaus Waidhalde. Es war ein spektakulär fortschrittlicher Bau.

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Die Baustelle im September 1932.

Anfang 1932 zeigte eine Ausstellung im Kunstgewerbemuseum Zürich, wie Schulhäuser der Zukunft aussehen sollten. Die «reformerisch orientierte Schulpädagogik» drängte auf neue Lehrformen und auf offenere Schulhäuser. Die «Spielreformer» forderten mehr freie Betätigung der Kinder, mehr Aufenthalt in der Natur und Unterricht in Spiel und Sport. Schule bedeutete in den 1920er-Jahren in erster Linie Frontalunterricht, Auswendiglernen und Drill. Die Schulhäuser waren häufig wie Burgen angelegt, mit langen Gängen, Hallen, schmalen, fast fensterlosen Schulräumen und hohen, dunklen Treppenhäusern. Ein steinerner Vorplatz diente dem Appell, den es häufig vor und nach dem Unterricht gab.
Die Ausstellung im Kunstgewerbemuseum kam auf Anregung von Stadtbaumeister Hermann Herter zustande. Herter war Architekt und ging bei Stadtbaumeister Gustav Gull in die Ausbildung. Gull baute unter anderem einen Teil der ETH und das Landesmuseum, von seinem Schüler Herter stammen die Sportanlage Sihlhölzli, das Amtshaus V und das Hallenbad City. Sein Interesse galt dem Kommunalen Wohnungsbau und besonders dem Schulhausbau. Der Umsetzung der neuen Lehrpläne und frischen Unterrichtsformen sollten neuartige, moderne Schulhäuser dienen.
Es war die Zeit des Roten Zürichs. Die «Licht-, Luft- und Sonnenpolitik» wollte die «Zeugen der kapitalistischen Wohnungsbauära aus dem Quartierdickicht herausschlagen». Das Gärtnerquartier und der alte Dorfkern wurden dieser neuen Ansicht geopfert. Man wollte dem darbenden Quartier Luft verschaffen, anständige Strassen und moderne Häuser bauen.
Man fühlt Bedauern, wenn man sich die alten Fotos vom Wipkinger Dorfkern anschaut. Allerdings ist der Blick zurück oft romantisch verklärt. Die Häuser stammten grösstenteils aus dem vorletzten Jahrhundert, ohne fliessendes Wasser und zum Heizen nichts als einen Kachelofen in der Stube. Die Häuser waren kaum isoliert, hatten dünne Glasfenster und die Ziegel lagen direkt auf einem Lättlirost. Es kam gar nicht so selten vor, dass Alte und Kranke in kalten Winternächten im eigenen Haus erfroren.

Ein modernes Schulhaus

Das Waidhalde-Schulhaus in Wipkingen war eines der ersten Schulhäuser in der Schweiz, die nach reformerischen Gesichtspunkten geplant wurden. Es ist ein Zeugnis der damaligen Denkweise und ist heute im Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte von kommunaler Bedeutung aufgeführt. Lichte, helle Bauten sollten die Säulenhallen, die dunklen Treppen und langen Zimmer ersetzen. Das Waidhalde-Schulhaus stünde an der sonnigsten Stelle in Wipkingen; am unbebauten Hang neben der Kirche, als Quader so angelegt, dass kein Schatten des Kirchturms oder von anderen Gebäuden den Lichteinfall bedränge. Die Fensterfront erhielt schmale Eisenrahmen und wurde nach statischen Berechnungen so gross wie nur möglich angelegt.
Rückblickend heisst es oft, die «Neue Sachlichkeit» oder das «Neue Bauen» sei maximal kostensparend und rücksichtslos rationell erfolgt. Das Gegenteil ist wahr. Die Architekten an der ETH stellten Experimente an, wie Sonne und Luftzirkulation die Bauten effizient wärmen und kühlen und wie moderne Fenster und die Quaderform den Lichteinfall optimieren könnten.
Die Fenster sollten nicht nur Licht, sondern im Winter auch Wärme einlassen. Die Zentralheizung reichte nur knapp für das ganze Gebäude. Sommerliche Kühlung erfolgte durch Storen und durch raffinierte Lüftung im schattigen, hinteren Teil des Hauses. Dort waren auch die Treppen, Gänge und funktionalen Räume vorgesehen.
Das Schulhaus Waidhalde, erbaut unter Leitung des Architekten und damaligen Stadtbaumeisters Hermann Herter, ist einer der ersten Schulbauten im Stil «Neues Bauen». Für das Waidhalde-Schulhaus plante Herter die architektonische Umsetzung der Reformerischen Schulpädagogik. Die Ausstellung im Kunstgewerbemuseum zeigte nebst den Bauformen auch die Inneneinrichtung der neuartigen Schulzimmer, die nicht länger Schulstuben heissen sollten. Leichte Tische und bewegliche Bestuhlung gestalteten die Zimmer flexibel bezüglich Klassengrösse und Altersstufen. Die Schulzimmer selbst waren mehrheitlich quadratisch angelegt mit Lichteinfall von links, damit die Schüler beim Schreiben viel Licht hatten.
Die Möbel hiessen offiziell Reformschulmöbel. Als eines der ersten Schulhäuser in der Schweiz hingen in der Waidhalde ausklappbare, sechsflächige Wandtafeln. Dies ermöglichte den Pädagogen vorbereitete Lektionen und sparte Zeit im Unterricht.
Im Bericht des Hochbauamtes stand: «Entsprechend den neuzeitlichen Erkenntnissen über die Lebensbedingungen städtischer Schüler muss der Umschwung einer Schulhauanlage – Freiflächen wie Grünanlagen, Turn- und Spielplätze, Schul- und Schülergärten – ausreichend bemessen werden.» Entsprechend plante Herter auch die Umgebung des Schulhauses. Sie entsprach dem Leitbild: Gebaut wurde eine umfassend konzipierte Aussenanlage mit Turnhalle, Sportwiese und Rennbahn. Zudem erstellte Herter eine zusätzliche Turnhalle für den Mädchenunterricht und ein «Brausebad».
«Die Freiflächen sichern der Jugend einer Grossstadt den ihre Entwicklung fördernden Raum, sie gewähren ihr Ruhe und Erholung von Lärm und Verkehr, schenken ihr Licht und Luft», hiess es im Bericht weiter. Turnen und Sport war fester Bestandteil des Lehrplans. Allerdings war Fussball spielen auf dem Turnplatz untersagt; dies schädige den Rasen und den Geist, hiess es.

Abstimmung im Februar 1932

Im Februar 1932 kam es zu einer Volksabstimmung über den Bau eines Schulhauses mit 18 Primar- und neun Sekundarschulzimmern. Das Volk bewilligte den Kredit. Auf der Baustelle ging es zügig voran. Eindrückliche Aufnahmen zeugen von der straffen Organisation und dem raschen, praktisch unfallfreien Baufortschritt. Nur 18 Monate nach der Volksabstimmung konnte die Einweihung stattfinden. Im Herbst 1933 weihte das Quartier das neue Schulhaus Waidhalde ein. Stadtpräsident Klöti schickte dem «schulpräsident werder vier wachten» ein Glückwunschtelegramm: «unter dem eindruck der praechtigen einweihungsfeier schulhaus waidhalde entbiete ich ihnen im namen des stadtrates die herzlichsten glueckwuensche».
Am Samstagnachmittag, den 7. Oktober 1933, feierte das Quartier sein neues Schulhaus mit einem Dorffest und einem Festspiel. Nach einem Eröffnungs-
vortrag vom Direktor der Zürcher Knabenmusik, W. Jeker, sangen die 5. und die 6. Klasse die Lieder «Rühret die Trommel» und «Müllers Wanderlied», gefolgt von der Begrüssungsansprache des Präsidenten der Kreisschulpflege IV, Fr. Werder. Nach einem Gesangsvortrag der Sekundarklassen folgte das grosse Festspiel, aufgeführt von über 400 Schulkindern auf der Freilichtbühne vor dem Schulhaus, eigens geschrieben von Rudolf Hägni.
«1500 Schulkinder freuen sich auf diesen Tag, an dem sie blumengeschmückt ausziehen dürfen, ein frohes Jugendfest zu feiern und ihr Schulhaus in Empfang zu nehmen», schrieb die «Neue Zürcher Zeitung». Unter Mitwirkung der Knabenmusik und des Handharmonikaklubs Milo folgte ein grosser Umzug; die Marschroute führte von der Lehenstrasse, Nordstrasse, Waidstrasse und Rosengartenstrasse zum Buchegg, dann zurück via Scheffelstrasse, Nordstrasse und Rosengartenstrasse, anschliessend die Lehenstrasse wieder hoch zum neuen Schulhaus. Die Bevölkerung war aufgerufen, die Häuser festlich zu beflaggen.
Nach der Rückkehr des Umzugs folgte die Verpflegung der Kinder und die öffentliche Besichtigung des Schulhauses, welche die anfängliche Skepsis wegen der Wuchtigkeit des Baus zugunsten Stolz und grosser Freude sch30winden liess.

1 Kommentare


Rösli Jrène-Beatrix

3. Juli 2022  —  08:54 Uhr

super Artikel !! immer spannende Berichte im Wipkinger
gefällt mir

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