«Wir nehmen wahr, was Sorgen bereitet»

Vergesslichkeit gehört zum Älterwerden. Doch wann ist sie Symptom einer beginnenden Demenz? Betroffene und Angehörige sind oft verunsichert. In der Memory-Klinik des Stadtspitals Waid finden sie Hilfe.

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Menschen mit Demenz und Angehörige im Kunsthaus Zürich: Die Bilder animieren zum kreativen Geschichtenerfinden.
Dr. Irene Bopp-Kistler, Leiterin Memory-Klinik Stadtspital Waid.
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Frau Bopp, wie reagieren Sie, wenn jemand Ihnen sagt: Wieso soll man sich abklären lassen, wenn es gegen Demenz doch gar keine Therapie gibt?

Dr. Irene Bopp-Kistler: Die Betroffenen und Angehörigen selber sagen das ganz selten. Es sind Ärztinnen und Ärzte, die immer wieder so denken.

Aber es gibt auch Erkrankte, die ihre Symptome nicht wahrnehmen. Ginge es ihnen nicht besser ohne die harte Diagnose?

Nicht abklären heisst ja nicht, dass sich die Krankheit verdrängen lässt. Die Demenz ist von früh bis spät da und führt immer zu Konflikten. Meine Erfahrung ist, dass auch diejenigen, die sich zuerst nicht abklären lassen wollen, nach einem familientherapeutischen Gespräch aufatmen, weil sich die konfliktreiche Stimmung zuhause entspannt. Ein Patient sagte mir kürzlich: Jetzt weiss ich, dass meine Familie für mich ist und gar nicht gegen mich.

Wie zeigt sich die Krankheit bei jüngeren Menschen, die noch im Berufsleben stehen?

Sie kommen fast alle mit der Diagnose Burnout oder Mobbing zu uns. Plötzlich erhalten sie eine schlechte Mitarbeiterbeurteilung und werden ständig auf Fehler aufmerksam gemacht. Das muss schrecklich sein. Diese Menschen leben in einer ungeheuren Stresssituation beim Versuch, ihre Fehlleistungen zu kaschieren.

Wie kommt es dann doch dazu, dass jemand an Demenz denkt?

Häufig sind es die Arbeitgeber, die schliesslich etwas merken. Das heisst: die guten Arbeitgeber. Die anderen kündigen einfach.

Manchmal stellt sich bei der Abklärung der Verdacht auf Demenz auch als falsch heraus.

Das ist so. Hinter jeder kognitiven Störung können sich Hunderte von Ursachen verstecken. Die häufigste ist eine kaschierte Depression. Auch Stoffwechsel- und Durchblutungsstörungen, Mangelzustände, Entzündungen, ein Hirntumor oder die Neuroborreliose nach Zeckenbissen können demenzähnliche Zustände verursachen. In solchen Fällen gibt es meist eine heilende Therapie.

Und wie helfen Sie bei Demenz?

Leider gibt es bis jetzt keine guten Medikamente. Wir verfügen lediglich über Präparate, die das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen, mehr nicht. Ihr Einsatz ist deshalb für mich sekundär. Helfen heisst vor allem wahrzunehmen, was den Betroffenen und ihren Angehörigen am meisten Sorgen bereitet. Wir können ihnen Tipps geben, wie sie mit dieser schwierigen Situation umgehen können. Das kann extrem entlasten.

Wie lange begleiten Sie die Erkrankten und ihre Familien?

Es ist das Prinzip unserer Memory-Klinik, dass wir sie in Zusammenarbeit mit den Hausärztinnen und -ärzten über Jahre begleiten – von der Diagnose bis zum Eintritt ins Pflegeheim. Für mich bedeutet es oft auch einen Trauerprozess, wenn es soweit ist. Denn viele dieser Menschen kenne ich seit acht oder zehn Jahren.

Sie haben einmal gesagt, ein Markenzeichen des Waidspitals sei seine ganzheitliche Medizin.

In der Memory-Klinik sehen wir den Menschen als Ganzes. Wo steht er in seiner Biografie? Wie sehen seine Wünsche aus? Wie kann ich ihn begleiten in seinen «End-of-Life»-Entscheidungen? Meine Aufgabe ist es, mein Gegenüber zu spüren und es in seinen moralischen Vorstellungen und in seinem Weltkonzept zu unterstützen. Zudem nehme ich wahr, dass das ganze Waidspital den Demenzerkrankten positiv gegenübersteht. Das fängt bereits auf der Notfallstation an, wo wir Geriaterinnen und Geriater bei Anzeichen einer Demenz oft von Anfang an hinzugezogen werden. Gerade auch, wenn es um ethische Entscheidungen geht.

Entscheidungen worüber?

Kürzlich wurde eine stark demente Frau mit einer schweren Lungenentzündung eingeliefert. Es wäre leicht, sie einfach auf die Intensivstation zu bringen. Aber ist das auch richtig? Der Ehemann sagt: Meine Frau wollte nie ins Pflegeheim, aber ich kann nicht mehr. Eigentlich wäre es das Beste, wenn sie jetzt sterben könnte. Und die Tochter sagt: Aber jetzt habe ich sie ins Spital gebracht, man muss doch etwas machen! Wir nahmen uns also eine Stunde Zeit, um diesen Fall ethisch aufzurollen – mit dem Support des Notfallteams.

Soeben haben Sie zusammen mit 60 Koautorinnen und -Autoren das Buch «Demenz» herausgegeben. Was war Ihre Absicht dabei?

Ich wollte die ganze gesellschaftliche Perspektive aufzeigen, die es im Thema Demenz gibt. Wieso etwa macht diese Krankheit so viel Angst? In einer aktuellen Umfrage haben 40 Prozent der Befragten gesagt, wenn sie dement würden, möchten sie mit Exit aus dem Leben gehen. Tatsächlich macht das aber fast niemand. Einige Angehörige haben sich auch getraut, Tabuthemen aufzugreifen: Wie ist das, wenn der Partner mich plötzlich schlägt? Oder: Was denken meine Freunde über mich, wenn ich eine demenzerkrankte Frau habe und gleichzeitig eine Beziehung mit einer neuen Partnerin? Oder: Darf ich noch Sex haben mit jemandem, der «eigentlich nur noch als Hülle» existiert? Über solche Fragen beginnt die Gesellschaft nun zu reden.

«Demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven», Hg. Irene Bopp-Kistler,
Verlag Rüffer & Rub, Zürich 2016, 656 Seiten, Fr. 44.-

 

Memory-Klinik Stadtspital Waid
Fachkräfte aus den Gebieten Medizin, Neuropsychologie und Radiologie klären gemeinsam die Ursachen von Hirnleistungsstörungen ab. Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten werden anschliessend mit den Betroffenen und Angehörigen besprochen.

1 Kommentare


Müller Rudolf

1. Juli 2016  —  23:10 Uhr

Liebe Irene, Ich habe zwar das Buch nicht gelesen. Aber meine vielen Gedächtnislücken zeigen womöglich auf beginnende Demenz. Ich befasse mich sehr damit.
Herzliche Grüsse Ruedi Müller

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