Bahnhof Letten

Vor dreissig Jahren schloss die «Station Letten» den Betrieb mit einem Quartierfest. Eine Einweihungsfeier hatte es 95 Jahre zuvor nicht gegeben.

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Impressionen vom letzten Betriebstag des Bahnhofs Letten am 27./28. Mai 1989.
Die SBB benötigten die Lettenlinie nach dem Bau des Hirschengrabentunnels nicht mehr.
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Die Konsternation war gross: Einmal mehr brüskierte die SBB das Quartier. Am 5. März 1989 hatte sich eine grosse Mehrheit für die Freihaltezone am Letten ausgesprochen. 72000 Ja gegen nur 12000 Nein wollten den Bahnhof Letten, dessen Ende bereits beschlossen war, zu einer Freihaltezone in der Bau- und Zonenordnung umzonen. Der Quartierverein hatte sich mächtig ins Zeug gelegt für diese Abstimmung. Die SBB ihrerseits dachte nicht daran, das Grundstück samt Gleis kampflos aufzugeben. Die Kreisdirektion III der SBB legte Rekurs bei der Baurekurskommission I der Stadt Zürich ein und hintertrieb mit der Anfechtungs-Ankündigung den Volksentscheid. Die SBB empfand die Zonenumteilung als eine «drastische Einschränkung der Nutzungsmöglichkeiten». Sie meldete Eigenbedarf an, wollte die dreigeschossige Wohnzone beibehalten und auf dem Grundstück Bauinstallationen für den Bau zweier weiterer Gleise der Wipkingerlinie unterbringen. Als Folge davon war klar, dass nach der Stilllegung das Areal für längere Zeit brachliegen würde.

Schluss am 27. Mai 1989

Als die Linienplanung der S-Bahn vorsah, beim Hirschengraben einen Tunnel als Verbindung des rechten Seeufers mit dem Hauptbahnhof zu bauen, war das Ende des Bahnhofs Letten absehbar. Gebaut wurde der 1400 Meter lange Hirschengrabentunnel von 1984 bis 1988. In diesen Jahren verkehrten ausserordentlich viele Güterzüge durch den Bahnhof Zürich-Letten. Der Aushub des Milchbucktunnels und der S-Bahn-Baustellen wurde über die Letten-Linie abgeführt, danach der ganze Aushub des Hirschengrabentunnels. Der Personenverkehr war weiter geschrumpft, und die endlosen nächtlichen Güterzüge raubten dem Quartier Nerv und Schlaf.
Die letzten 14 Jahre betrieb Bahnhofsvorstand Felix Hunziker den Bahnhof Letten. Dieser war nach der Schalterschliessung am Bahnhof Wipkingen der einzige bediente Bahnhof im Quartier. Noch fünf Angestellte waren am Bahnhof Letten beschäftigt. Bahnhofsvorstand Hunziker lebte, wie es damals üblich war, in einer Wohnung im Bahnhof. Dabei war die «Station Letten», wie der Bahnhof offiziell hiess, eine Erfolgsgeschichte. Von Beginn an ab 1894 verkehrten acht Züge in beide Richtungen. Bereits der erste Stationsvorstand wohnte in der Bahnhofswohnung und bediente das Stellwerk zusammen mit einem Weichenwärter.
Die Wipkinger hatten den Glauben an einen eigenen Bahnhof bei der Nordbrücke fast schon verloren. Sie forderten deshalb die Nordostbahn (NOB) auf, den Bahnhof «Station Wipkingen» zu benennen. Obwohl die NOB ihren Sitz im Haus Nummer 141 «In Turwiesen» in Wipkingen hatte, wollte sie davon nichts wissen.
Ab 1900 verfügte das städtische Elektrizitätswerk über ein eigenes Gleis für die Anlieferung. Der Bahnhof Letten expandierte rasant. Ein Güterschuppen wurde gebaut. Nach dem ersten Weltkrieg boten der Stationsvorstand, fünf Gehilfen und drei Güterarbeiter einen Komplettservice an, mit Billettschalter, Reservationen, Gruppenreisen, Stückgutverkehr, Gepäckaufgabe und Wechselstube. Allerdings blieb das Personenaufkommen enttäuschend klein, da der Bahnhof am Rande des Quartiers lag. Auch die Elektrifizierung 1926 brachte wenig. Immerhin verkehrte ab 1965 der damals modernste Zug auf der Goldküstenlinie, die legendäre «Mirage» (RABDe 12/12).

Der letzte Zug

Vor dreissig Jahren, am Samstag, den 28. Mai 1989, verkehrte um 0.12 Uhr der letzte Zug. Im Oktober 1989 hätte der Bahnhof Letten sein 95 Jahre Jubiläum gefeiert. Der Quartierverein wollte dem Bahnhof einen würdigen Abschied bereiten. «Der Quartierbahnhof war mit Zierbäumchen festlich geschmückt, ein Festzelt stand auf dem Parkplatz und die SBB stellten einen Weinwagen zur Verfügung», schrieb der Quartierverein im Jahresbericht. Die Bratwürste stammten vom Quartiermetzger Pepe, das Risotto von Luigi Rotta, Süsses von den Quartierbäckereien; das Tanztheater «Tamuté Company» performte vor dem Festzelt, Doris Oesch und Carlo Bernasconi lasen Bahngeschichten. QV-Präsident Rudolf Jaun verabschiedete Bahnhofsvorstand Hunziker, nach Abfahrt des allerletzten Zuges, um 12 Minuten nach Mitternacht tanzte man im Zelt zur Disco «Last Train», eine Leinwand wurde aufgezogen und quer über die Gleise guckten die Nachtschwärmer den Western «Last Train From Gun Hill».
Danach stand das Leben am Letten still, die Gleisanlage vergandete, Güterwaggons rosteten vor sich hin. Mit dem Rekurs der SBB war alles blockiert, trotz klarem Volksentscheid. Wenige Jahre später ereignete sich dort eine Tragödie ungeahnten Ausmasses; die Drogenszene etablierte sich am Letten und schaffte grosses Leid.
Der Lettentunnel wurde 2002 aufgefüllt, die Gleise entfernt. Im alten Bahnhof mietete sich Kleingewerbe ein, die Eisenbahnbrücke wurde renoviert, die Freizeitanlage bei der Badeanstalt Oberer Letten mit über zehn Jahren Verzögerung realisiert, und auf dem alten Bahntrassee führte dann ein Fuss- und Veloweg über die Limmat in den Kreis 5.

Beinahe ein Stahlwerk

Es hätte auch anders kommen können: Im Letten standen einst Tuchdruckereien und Färbereien, darunter weltweit tätige Unternehmen (siehe «Wipkinger» September 2017). Um 1860 wurde den Industriellen im Letten klar, dass ihre wasserkraftbetriebenen Baumwoll-Druckereien und Färbereien mit ihren Pressen und Walken gegen die neuen britischen Dampfmaschinen keine Chancen mehr haben würden. Die Seidenindustrie in den Zürcher Vororten würde keine Zukunft mehr haben. Seidenfabrikant Salomon Rütschi ist bekannt für seine grosszügigen Spenden an die Gemeinde und an die Kirche. Er befürchtete eine schlimme Wende für den Letten. Die Betreiberin der Goldküstenlinie, die Nordostbahn, annoncierte bereits in Zeitungen und suchte Financiers für neue Eisenbahnlinien. Eine davon hätte vom heutigen Bahnhof Wipkingen her in den Letten geführt, Waggons hätten Kohle für Giessereien und Stahlwerke hergeführt. Salomon Rütschi und Friedrich Cornetz wussten von ihren Englandreisen, was Stahlwerke in kleinen Vorortsgemeinden anrichten können.
Ihre «Zürcherische Seidenindustriellen-Gesellschaft» gründete nach umfangreichen Spenden der Baumwoll- und Seidenfabrikanten in Wipkingen eine Seidenwebschule. Cornetz verkaufte sein Gebäude nicht den Financiers, sondern der Stadt Zürich. Rütschi dotierte einen Stipendienfonds mit 20000 Franken, ihre Gesellschaft bürgte für ein allfälliges Defizit. Dies ermöglichte die Zürcher Seidenwebschule, welche 1881 im ehemaligen Fabrikgebäude der Hofmeisterschen Kattundruckerei an der heutigen Wasserwerkstrasse 123 eröffnet wurde.
Unfreiwillige Hilfe erhielten sie in der Abwehr der Kohleindustrie an der Limmat von den Dörfern und Bauern am rechten Zürichseeufer. Die Linienführung zwischen Stadelhofen und Rapperswil bereitete der NOB Probleme. Bei der Linienführung und den Bahnhofstandorten kam es zu unendlichen Streitereien, Petitionen, Prozessen, Demonstrationen und Handgreiflichkeiten, was den Bau um zwanzig Jahre verzögerte. Die Bauarbeiten kamen zum Stillstand und die NOB geriet in Finanznöte. Die sechs Kilometer vom Stadelhofen zum Hauptbahnhof führten zu weiteren Rekursen und Einsprachen bis vors Bundesgericht. Erst 1894 war die Linie gebaut, als Schwerindustrie am Letten kein Thema mehr war. Am 1. Oktober 1894 schnaubten erstmals Dampfzüge durch den Letten. Eine Einweihungsfeier gab es nicht.

Quellen: Jahresbericht des QV Wipkingen 1989
Martin Bürlimann, Kurt Gammeter: Café Letten, Wibichinga Verlag 2015.

1 Kommentare


Stephan Kühni

27. Juni 2020  —  12:10 Uhr

Ich verstehe die Welt bis heute nicht. Warum haben so viele Menschen die grössere Entscheidungen treffen müssen so ein Geld Virus im Kopf? Immer geht es nur um das liebe Geld. Dass man aber mal an Historischen Vereine denkt, das kommt keinem von den Oberen in den Sinn. Anstatt den Letten Bahnhof und den Tunnel aufrecht zu erhalten, macht man lieber alles zu, nur weil es billiger kommt. Aber an die SBB Historie denkt man nicht. Der Letten Bahnhof würde heute ganz unter Dampf und Nostalgie stehen.

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