Quartierleben
Die Kunst steht in der Pflicht
Im Rahmen der Aktionstage «Beim Namen nennen» wurde im GZ Wipkingen das Ausstellungsprojekt «Unser Unvermögen» zur Flüchtlingsfrage erschaffen. Der Kurator Damian Christinger entwickelte ein Werk zum Ergänzen, zum Nachdenken und insbesondere zum Diskutieren.
29. Juni 2021 — Daniel Diriwaechter
Die Frau steht vor einem Bild. Sie sieht einen Strand, das Meer dahinter. «Zu idyllisch», sagt sie. Ihre Hand hält eine Spraydose bereit, sie setzt an. Eine gelbe Wolke erstreckt sich am Himmel, ein schwarzer Stacheldraht kommt hinzu, und die harmlose Strandszene wird innert wenigen Sekunden vom Schrecken heimgesucht. «Das ist näher an der Realität», so die Frau. Die Realität ist jene, die seit Jahren das Mittelmeer in ein Massengrab verwandelt. Und die Frau begeht auch keinen Vandalismus, sondern ist eine der ersten, die durchaus erwünscht ein Kunstwerk um ihre persönlichen Gedanken ergänzt.
Die genannte Episode ereignete sich Mitte Juni an der Vernissage zum Ausstellungsprojekt «Unser Unvermögen» im Gemeinschaftszentrum Wipkingen. Die Kunstwerke waren Teil der Aktionstage «Beim Namen nennen» – diese Tage riefen die 44000 Menschen in Erinnerung, welche seit 1993 beim Versuch, nach Europa zu flüchten, gestorben sind. Frauen, Männer, Jugendliche, Kinder, Babys – die meisten von ihnen ertranken im Mittelmeer. Das schreibt die Organisation und Trägerschaft der Aktionstage, ein Zusammenschluss verschiedenster Organisationen, hauptsächlich mit kirchlichem oder NGO-Hintergrund.
Während das Herzstück der Aktionstage am 19. Juni, dem Flüchtlingstag, den Opfern mit einer Installation aus Namensstreifen in der Zürcher Wasserkirche gedachte, sollte auch das GZ Wipkingen einen Beitrag leisten. Damian Christinger, eine in der Kunstszene bekannte Persönlichkeit, kuratierte das Ausstellungsprojekt im Auftrag des GZ (siehe Box). Für ihn war klar, dass das Vorhaben eine Diskussion entfachen soll – eine Konfrontation mit «unserem» Unvermögen.
Ein öffentlicher Denkraum
«Unsere Konfrontation mit der Tragödie findet nicht statt, deswegen wird es Zeit, das zu ändern», sagte Christinger. Er hatte zwei Monate Zeit, um ein Projekt für die Aktionstage zu entwickeln. Oder wie er es auch nannte: sozial engagierte Kunst zu zeigen. «Gerade die Arbeit in der Mitte eines Quartiers erreicht viele Menschen», sagte er. Seine Vision: Die dort gezeigte Kunst sollte sich über das blosse Begutachten hinwegsetzen, sich interaktiv präsentieren und dadurch einen öffentlichen Denkraum schaffen.
Schliesslich wurden eigens angefertigte Holztafeln im Innenhof des Gemeinschafszentrums aufgestellt, die einem Kernteam aus Kunstschaffenden überlassen wurden. Die Künstler*innen und Denker*innen, welche von Christinger zuerst eingeladen wurden, waren Baltensperger + Siebert, Nicole Bachmann, Elodie Pong, Sally Schonfeldt und Navid Tschopp. Sie orientierten sich zunächst an Postern des europäischen Projekts «@now you see me moria». So fand sich auf den Tafeln das eingangs erwähnte Strandbild wieder, oder auch die Plakate des Ausstellungsprojektes selbst. Diese nahmen bekannten Sujets der Werbung auf, deren Botschaft geändert wurde und beispielsweise das Flüchtlingslager in Moria thematisierten.
Diese Werke standen, ergänzt mit Fotos von Livio Baumgartner, Marianne Halter und Jonas Burkhalter, sowie Lyrik von Simone Lappert, ab der Vernissage bereit, um von Besucher*innen der Ausstellung ergänzt zu werden. Sie konnten beschriftet, überklebt oder bemalt werden. Auf diese Weise wollte Christinger am Ende der Ausstellung auf ein Projekt blicken, dass einen ganz eigenen Beitrag zur vermeintlichen Flüchtlingskrise beisteuerte, ohne dass dieses die Menschen auf der Flucht instrumentalisierte.
Es geht um das Mitmachen
Das Künstlerduo Baltensperger + Siepert entwarf eine Collage aus Fotos, die verschiedene Grenzen zeigte. An der Vernissage waren sie gespannt, was diese Grenzen bald darstellen. «Es geht bei dieser Ausstellung um das Mitmachen, das finde ich spannend», meinte David Siepert. «Denn wo kann man schon gezeigte Kunst anfassen oder umgestalten»?
Seine Kollegin Sally Schonfeldt setzte hingegen auf einen Text, der an der Finissage musikalisch umgesetzt wurde. «The Silence about Moria … is becoming too loud» steht an einer Wand geschrieben. «Das Thema ist mir ein grosses Anliegen. Die Kunst steht in der Pflicht und muss ihren Beitrag zu dieser Diskussion leisten», sagte Schonfeldt. Für beide Kunstschaffenden war ihre Teilnahme sofort klar, als die Anfrage von Christinger kam.
An der Finissage, zehn Tage später, konnte bestaunt werden, wie die Werke von beherzten Personen erweitert wurden. Kurator Christinger und Rita Zurbrügg, Mitinitiantin und Leiterin der Workshops für das Projekt, erspähten rund 50 weitere Ergänzungen, Malereien, Texte oder Plakate, welche die ursprünglichen Werke des künstlerischen Kernteams um neue Aspekte erweiterten. «Es gab glücklicherweise keine menschenverachtenden Kommentare», so Christinger. Der öffentliche Denkraum, der «Unser Unvermögen» thematisierte, schloss an diesem Tag mit vielen Gesprächen, Musik und einem gemeinsamen Mittagessen aller Involvierten.
0 Kommentare