Die politische Kolumne: Die Stille hinter der Fassade

Immer häufiger muss die Stadtpolizei wegen häuslicher Gewalt ausrücken – meist sind Frauen betroffen. Die Autorin und Politikerin Nathalie Zeindler nennt die Probleme beim Namen.

Symbolbild Freepik.com

Von Nathalie Zeindler

Der ruhige Park am Wasser, buntes Markttreiben auf dem Röschibachplatz – nach aussen hin präsentieren sich die Quartiere Höngg und Wipkingen als Oasen in der kleinen Weltstadt Zürich. In einer scheinbar «heilen Welt» fällt es schwer zu glauben, dass sich hinter manchen geschlossenen Türen Dramen abspielen: Ein Blick in die Augen einer verängstigt wirkenden Nachbarin mit blauen Flecken am Hals lässt nicht genügend aufhorchen, weil sie diese auf einen Haushaltsunfall zurückführt.

Gewalt gegen das «schwache Geschlecht» stellt nicht lediglich ein Phänomen aus fernen Ländern dar: Es handelt sich inzwischen um ein gesellschaftliches Problem, was die jüngste Medienmitteilung der Stadt Zürich zeigt. Für das Sicherheitsdepartement und die Stadtpolizei hat sich die häusliche Gewalt zu einem strategischen Schwerpunkt entwickelt.

Durchschnittlich rückt unser «Freund und Helfer» sechsmal pro Tag aufgrund von Meldungen über familiäre Konflikte, Streitigkeiten oder Gewalt im häuslichen Bereich aus. Fast drei Viertel der Opfer sind Frauen.

Die Gründe hierfür liegen vor allem in einem nach wie vor ungleichen Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern, das durch tiefliegende gesellschaftliche Strukturen, Einstellungen und Verhaltensweisen aufrechterhalten wird.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Gespräch mit der in Wipkingen aufgewachsenen Alt-Nationalrätin Judith Stamm. Sie erzählte mir von ihren Erfahrungen als erste weibliche Kriminalbeamtin bei der Kantonspolizei Luzern ab 1960. Dort setzte sie sich dafür ein, dass Opfer ernster genommen würden und die häusliche Gewalt nicht lediglich als Ruhestörung betrachtet wurde.

1986 reichte sie eine Motion ein, die zur Schaffung des eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann führte, das sich mit struktureller Gewalt und Diskriminierung befasst. «Wir dürfen Probleme nicht externalisieren», sagte die Politikerin mit Nachdruck.

Man mag denken, dass sich solche Vorfälle kaum im eigenen Umfeld ereignen und demnach auch nicht in unseren Zürcher Quartieren. Es geht nicht lediglich um Fäuste, sondern oft um subtilere Formen der Machtdemonstration, der psychischen Erniedrigung.

Die Scham der Betroffenen ist oftmals so gross, dass sie aus Loyalität, aus Unsicherheit schweigen. Doch der Grundsatz sollte lauten: «Hinsehen statt Wegschauen»: Genau hier beginnt unsere Verantwortung als Quartiergemeinschaft. Wir müssen lernen, Zeichen wahrzunehmen und das Schweigen zu brechen, was nicht heissen soll, dass wir uns als Polizistinnen und Polizisten aufspielen sollen.

Aber es bedeutet, eine Kultur der Solidarität zu entwickeln – in einer Zeit, in der Polarisierung und soziale Isolation zunehmen, ist dies unerlässlich. Wenn das Gefühl aufkommt, dass etwas nicht stimmt oder wiederkehrende, seltsame Muster bemerkt werden, ist es wichtig zu wissen: Wir sind nicht machtlos.

Zur Person

Nathalie Zeindler

Nathalie Zeindler ist Journalistin und Autorin. Von ihr stammt die Biografie «Beherzt und unerschrocken» über Alt-Nationalrätin Judith Stamm. Sie ist Mitglied des Kirchgemeindeparlaments Zürich und der reformierten Kirchensynode Kanton Zürich. Zeindler ist weiter Gemeinderatskandidatin für Die Mitte 6/10.

0 Kommentare


Themen entdecken