Damals
«Die Weltunternehmen im Letten»
Den «Letten» kennt man heute als beschaulichen Quartierteil Wipkingens mit dem Stromwerk, der Badi und beliebten Genossenschaftssiedlungen. Dass im Letten vor zweihundert Jahren weltweit erfolgreiche Unternehmen standen, ist kaum mehr bekannt.
27. September 2017 — Martin Bürlimann
Aus dem Jahr 1863 stammt das «Gemeindebuch des Limmatthals». Dort finden sich Zahlen und Namen von Gemeinden und Quartieren. Aufgelistet sind die Wohnhäuser nach Hausnummern mit Namen der Eigentümer. Im Letten sind 14 Häuser verzeichnet: Nebst den damaligen Handwerksberufen wie Maurer, Monteur, Schlosser, Schuster und Aufzeichner sind drei Landwirte vermerkt, die Familien Hotz, Siegfried und Leimbacher.
Der gängigen Vorstellung nach war Wipkingen früher eine arme Gemeinde. Dass dies nicht stimmt, zeigt uns das Gemeindebuch: Nebst den erwähnten Familien finden sich die Namen von Professoren, Unternehmern und Fabrikanten. Professor Friedrich von Wyss lebte im «Landhaus Wyss», welches westlich an die Lettenstrasse grenzte. Der Professor für Rechtsgeschichte war auch Oberrichter, Ehrenmitglied der GGW und respektierter Feingeist von Wipkingen. Das Landhaus war seine Sommerresidenz. Gleich daneben lag das Mousson’sche Landgut, ein altes Schultheissengut. Es lag am Lindenbach, der Grenze zu Unterstrass. Um 1850 wohnte Wilhelm August Kahlbaum, Chemiker und Kaufmann im Gut. Stadtbekannt war der Park mit einem prächtigen Baumbestand bestehend aus Rosskastanien, Nussbäumen und Platanen. Die Okenstrasse – benannt nach Professor Oken, dem ersten Rektor der Universität – führte später quer durchs Gut. Weiter nennt das «Gemeindebuch des Limmatthals» Friedrich Cornetz und Heinrich Studer als Fabrikanten. Sie gehörten zu jener Fabrikantengeneration, die zusammen mit Salomon Rütschi die Weltkonzerne im Letten zur Blüte führten. Vor den 1770er-Jahren war es den Bürgern verboten, ausserhalb der Stadt Manufakturen zu errichten. Komplizierte Zunftvorrechte und Monopole kontrollierten die Wirtschaft. Mit der Industrialisierung, namentlich der mechanischen Kraftübertragung durch Wasserturbinen, liess sich das Verbot nicht mehr aufrechterhalten. In der Folge entstanden Gerbereien und Färbereien am Limmatlauf, aus denen sich eine blühende Industrie entwickelte.
Wohlhabende Wipkingerinnen
Das Industriezeitalter begann im Letten 1782. Damals veräusserte die Wipkingerin Anna Maria Hausheer ein Anwesen an Johann Jakob Hofmeister. Sie war eine jener vielen bedeutenden Wipkingerinnen, die sich wie eine Konstante durch die Dorfgeschichte ziehen (siehe auch «Wipkinger» vom 29. September 2016). Anna Maria Hausheer, geborene Fürst, besass einen Hof im Letten. Das Areal umfasste nebst dem Hauptgebäude Scheune mit Stall und Wiesen, dazu gehörte auch ein Fassungs- und Wässerungsrecht. Sie verkaufte 1782 einen Teil ihres Hofs mit den Wasserrechten an Jakob Hofmeister «für 7’000 Pfund samt 12 Louisdor Trinkgeld», wie es im Kaufbrief hiess. 1783 erhielt Jakob Hofmeister sen. die Bewilligung, den Unterlauf des Kanals 60 Fuss in die Laubiwiese flussaufwärts zu verlegen. Oberhalb der heutigen Badeanstalt Unterer Letten baute Hofmeister einen Kanal zur Wasserentnahme und zur Erzeugung mechanischer Energie. Bereits 1790 zeigt ein Aquarell eine stolze, mit Wasserkraft betriebene Fabrik und herrschaftlichen Fabrikgebäuden. Wasserschaufeln und Zahnräder trieben gewaltige Pleuel an, die mannshohe Walken drehten. Am Ufer standen hölzerne Trockentürme, und auf der Limmat schaukelten die Wasch-Schiffchen. Die Hofmeistersche Kattundruckerei prägte die Silhouette am Limmatufer. Sie begründete die stolze Wipkinger Tradition des Textilgewerbes, der Tuchdruckereien, Gerbereien und Färbereien. Sehr erfolgreich waren die Kattun- und Indienne-Druckereien. Johann Heinrich Hofmeister, geboren 1779, Bürger der Gemeinde Wipkingen, übernahm die Fabrik am Letten von seinem Vater. Johann Heinrich führte das «Hofmeister’sche Etablissement» zur Blüte. Der Zögling erlernte die Modellstecherei, bereiste ferne Länder und wuchs zu einem Unternehmer mit Weltformat. Chronist Escher findet lobende Worte: «Vom Sohn Hofmeister wird erzählt, dass er ein sehr tätiger Mann gewesen sei; frühmorgens auf, meist schon um 4 Uhr, habe er regelmässig eine Runde durch die Fabrik gemacht; für seine Arbeiter sei er von wohlmeinender Gesinnung gewesen». Johann Heinrich Hofmeister starb 1853. Tochtermann Friedrich Cornetz, Chemiker aus Mülhausen, übernahm die Fabrik. Hofmeister jun. wird als Menschenfreund und als äusserst tüchtig beschrieben. Er war zudem ein Musikfreund und liebte gesellige Anlässe; seine Vorführungen im Garten der Hofmeisterschen Fabrik waren damals legendär. Weitherum berühmt waren die Anlässe mit der «Laterna Magica». Künstler und Kunstfreunde waren gern gesehene Gäste, überliefert sind auch Vorführungen für die Zöglinge der Blinden- und Taubstummenanstalt und kostenlose Aufführungen für die Arbeiter und die Wipkinger Bevölkerung.
Die Herrschaften beteiligten sich am politischen und gesellschaftlichen Leben. Beim Bau des ersten Schulhauses 1824 konnte die Gemeinde die Kosten von 5’560 Gulden nicht selber tragen (Siehe «Wipkinger» vom 31. März 2016). Für den Aushub war kein Geld mehr in der Gemeindekasse, und die Wipkinger wurden zum Frondienst aufgeboten. Bei den Bürgern wurde um eine freiwillige Steuer ersucht, wovon die Industriellen im Letten den grössten Teil der eingenommenen 1’797 Gulden der Gemeinde schenkten.
Brunnen als Druckventil
Vor der Kattundruckerei stand im Hofmeisterschen Landpark ein Springbrunnen. Der frühklassizistische Brunnen beeindruckte mit einem zehn Meter breiten Becken und einer fünf Meter hohen Fontäne. Der Brunnen diente nicht zur Zierde, sondern er war Teil des Wasserkraftwerks der Druckerei. Im Kanal wurde das Wasser gefasst und in die Turbinen zu den Schaufeln eingespiesen. Der Maschinenmeister regulierte mittels Kurbeln und Planken den Wasserzufluss. Die Fontäne des Brunnens zeigte den Druck bei den Walken auf. Je nach Höhe des Springbrunnens musste ein Schieber verstellt werden, damit der Wasserdruck im Turbinenschacht konstant blieb.
Weltweit tätig
Hofmeister sen. war Begründer dieser Unternehmerdynastie. Er reiste oft nach England und brachte neue Muster und Drucktechniken nach Wipkingen. Die Wipkinger Textilunternehmer in der nachfolgenden Generation – Hofmeister jun., Rütschi, Cornetz, Studer – reisten für die Muster an Fachmessen, kauften Baumwolle in Ägypten, Seide in China, Farbhölzer in Indien und verkauften die edlen Tuchballen in die europäischen Städte und in den Orient. Es gab eine ganze Reihe von Industriellen und Fabrikanten im Letten. Der heute Bekannteste war Salomon Rütschi, Seidenfabrikant und Wohltäter. An der Wasserwerkstrasse stand etwas oberhalb der Hofmeisterschen Fabrik die Studersche Kattundruckerei. Heinrich Studer, Vater des späteren Direktors der Zürcher Kantonalbank und der Nordostbahn, war radikal-freisinnig. Seine Baumwolldruckerei bedruckte Stoffe, färbte und versuchte sich auch in der Seidenraupenzucht, dies allerdings erfolglos.
Schule statt Kohle
In den 1860er Jahren war absehbar, dass die Seidenindustrie in den Zürcher Vororten keine Zukunft haben würde. Den neuen britischen Dampfmaschinen waren die Pressen und Walken an der Limmat nicht gewachsen. Friedrich Cornetz und Salomon Rütschi befürchteten eine schlimme Wende für den Letten. Die Nordostbahn suchte in Annoncen nach Financiers für ihre neuen Eisenbahnlinien, und eine davon könnte vom Damm her zum Letten führen; mit Kohlezügen für Schmelzwerke und Giessereien. Von ihren Englandreisen wussten sie, was Stahlwerke mit kleinen Vorortsgemeinden anrichten können. Die letzte Fabrik am Letten schloss 1873 ihre Tore. Die «Zürcherische Seidenindustriellen-Gesellschaft» wollte auf Anregung von Cornetz und Rütschi eine Seidenwebschule gründen. Cornetz verkaufte sein Gebäude nicht den Financiers, sondern der Stadt Zürich. Eine städtische Volksabstimmung über ein Schulhaus am Letten scheiterte 1878 nur knapp. Rütschi dotierte einen Stipendienfonds mit 20’000 Franken, und die Seidenindustriellen-Gesellschaft übernahm eine Defizitgarantie. Damit war der Weg frei für die Zürcher Seidenwebschule; sie wurde 1881 im ehemaligen Fabrikgebäude der Hofmeisterschen Kattundruckerei eröffnet. Im Gebäude der Hofmeisterschen Fabrik war bis vor kurzem die bedeutendste Textilfachschule der Schweiz angesiedelt. Das ehemalige Fabrikgebäude sieht heute noch fast gleich aus wie zur Blütezeit der Seidenindustrie im Letten.
Legende zum Bild
«Herrn Hofmeisters Landgut u. Fabrick ohnweitt Zürich», Aquarell von Johann Jakob Aschmann um 1790 (Zentralbibliothek Zürich). Ganz Links der stolze Hof der Familie Hotz, rechts die Landsitze im Letten. Gut erkennbar sind die Gebäude an der heutigen Wasserwerkstrasse. Die Wasserwerkstrasse 123, 125 und 127 sind ehemalige Ökonomiegebäude der Druckerei. Das heutige Haus Nummer 123 ist das älteste. In ihm errichtete Johann Jakob Hofmeister 1783 zusammen mit der Kattundrucke¬rei ein Wohnhaus. Nummer 125 kam 1841 als Remise dazu, später dann die Stallungen der Familie Hofmeister, heute Nummer 127. Johann Jakob Hofmeister ist der Begründer der Industriellen Tradition in Wipkingen.
Quellen:
Martin Bürlimann, Kurt Gammeter: Wipkingen – Vom Dorf zum Quartier, Wibichinga Verlag, 2006.
Conrad Escher, Rudolf Wachter: Chronik der Gemeinde Wipkingen, Orell Füssli, 1917.
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