Ein Fortsetzungskrimi zum Jubiläum

Der Zürcher Krimipreis feiert dieses Jahr sein 10-Jahre-Jubiläum. Zwei Neuerungen gibt es: Die Organisatoren haben einen Verein gegründet und das Einzugsgebiet auf den ganzen Kanton ausgeweitet. Zur Feier schreiben vier ehemalige Krimipreisträger bis Ende Jahr gemeinsam einen Fortsetzungsroman. Den Anfang macht Severin Schwendener.

Auftakt zum Jubiläums-Fortsetzungsroman: Alles beginnt in der Laborbar.

Als die Mimose die Wendeltreppe von der Empore hinabtänzelt, ist die Veranstaltung bereits fünfzehn Minuten hinter dem Zeitplan. Doch die Mimose bemüht sich redlich, dies wieder geradezurücken. Mit vor Aufregung kieksigem Stimmchen japst er sich durch die vorbereitete Textstelle und beantwortet die Fragen des Moderators so knapp wie möglich. Dieser verzichtet aus Mitleid auf die letzte Frage, entlässt die Mimose in den rettenden Sessel am Bühnenrand und ruft die Ziege auf.

Nichts passiert.

Der Moderator lacht ins Publikum, getraut sich noch nicht, die Ziege erneut aufzurufen. Neben der Bar werfen sich die Mitglieder der Jury wissende Blicke zu, gepaart mit Augenrollen der Extraklasse.
War ja klar, dass die Ziege einen besonderen Auftritt inszenieren würde.
Als ein wenig Unruhe aufkommt und scharrende Füsse ein aufwachendes Publikum signalisieren, ruft der Moderator die Ziege erneut auf. Lauter diesmal, noch nicht ganz mit seiner Feldweibel-Stimme, aber nicht mehr weit davon entfernt.

Noch immer geschieht gar nichts, durch das Publikum raunt eine erste Woge Gelächter.

Dann Schritte auf der Treppe, welche hinter der Bar zu den Toiletten und zur Empore führt. Jasmin Sonderegger, Präsidentin des Vereins «Zürcher Krimipreis», hastet nach oben, dank hochhackiger Pumps für jeden im Raum überdeutlich hörbar. Nur die Flüche, die sie dabei erzürnt in sich hineinmurmelt, bleiben privat. Oben ist das Licht schummrig, von unten strahlt die Bühnenbeleuchtung; als sie über das Geländer blickt, sieht die Präsidentin den Moderator, der unten steht und nach oben schaut. Dass das gesamte Publikum es ihm gleichtut, weiss sie, ohne es zu sehen. Sie stürzt auf die Empore.

Die Ziege liegt am Boden, den Mund weit aufgesperrt, um ihren Hals eine tief ins Fleisch getriebene Drahtschlinge, in ihrer verkrampften Hand das – jetzt kann man es ja sagen – preiszukrönende Werk.

Eine Sekunde wankt die Empore unter den Füssen der Präsidentin, sie muss sich am Geländer festhalten, während sie ihre freie Hand auf den Mund presst, um den Schrei einzusperren, der sich gewaltsam einen Weg ins Freie bahnen möchte.

Es ist genau so wie im Roman, ein exaktes Abbild jener Szene, welche die Ziege in ihrem eigenen Krimi beschrieben hat. Die Präsidentin kann es mit Sicherheit sagen, sie hat den Roman einmal verschlungen und einmal gelesen, beide Male ist die Szene mit dem am Boden liegenden, erdrosselten Opfer in gewaltiger Farbenpracht vor ihrem inneren Auge entstanden, mit ein Grund dafür, dass die Ziege den Krimipreis hätte gewinnen sollen.

«Jasmin?» Von unten dringt schwach die Stimme des Moderators an ihr Ohr, er kann sie sehen, wie sie keuchend am Geländer lehnt, die Hand vor den Mund gepresst. Seine Stimme schwankt irgendwo zwischen fragend und besorgt, das Publikum wird von Unruhe erfasst, ein Lautteppich aus gemurmelten Worten liegt plötzlich in der Laborbar, doch auf diesem Teppich liegt bleiern die Stille auf der Empore, sie geht von der toten Frau am Boden aus und frisst sich in die Präsidentin des Vereins «Zürcher Krimipreis» hinein.

«Ich sollte etwas tun», denkt Jasmin Sonderegger. «Die Polizei rufen. Die Ambulanz. Um Hilfe schreien. Einfach irgendetwas tun.» Gleichzeitig rauschen in ihrem Kopf die Gedanken. «Es muss die Mimose gewesen sein! Der Mörder ist immer noch hier! Ich bin die Nächste!»

Doch sie ist wie gelähmt, das alles fühlt sich unwirklich an, wie in einem Krimi, genau genommen wie im Krimi der Ziege, als habe dieses unbestritten geniale Werk sie angesaugt, in sich aufgenommen
und in seine komplexe Handlung einbezogen.
Erst als der Moderator erneut ihren Namen ruft, kann sich Jasmin Sonderegger losreissen. Sie taumelt zur Wendeltreppe, auf welcher die Ziege hätte ihrem Preis entgegengehen sollen. Zögernd setzt sie einen Fuss vor den anderen, es ist totenstill in der Laborbar, alle wissen, dass irgendetwas Schreckliches geschehen ist, die Augen aller kleben an der Präsidentin, die langsam die Treppe hinabkommt. Dann ist Jasmin Sonderegger unten, käseweiss im Gesicht, die Augen weit aufgesperrt, mit eisernem Griff hält sie sich am Geländer fest. «Sie ist tot!», kreischt es schrill aus ihr heraus. «Erdrosselt wie in ihrem eigenen Krimi!»

Dann packt ein irres Lachen die Präsidentin des Vereins «Zürcher Krimipreis», sie will dagegen ankämpfen, doch ohne Erfolg. Es packt sie, schüttelt sie, dieses wahnsinnige Gelächter, das aus ihr herausbricht und einfach nicht mehr aufhören will.

Dieser Text ist ab sofort auf www.krimipreis.ch und www.wipkinger-zeitung.ch zu lesen. Die nächsten Folgen werden monatlich auf der Homepage des Krimipreises aufgeschaltet. Autoren sind neben Severin Schwendener, Sunil Mann, Raphael Zehnder und Res Perrot.

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