Quartierleben
Eine «Klimaanlage» für Wipkingen
Die Reformierte Kirche Wipkingen stand die letzten eineinhalb Jahre leer. Nun aber ist wieder Leben eingezogen: Zunächst befristet auf die Dauer von zweieinhalb Jahren wurde das Gebäude der Klimabewegung überlassen. Am 11. September feierte diese die Eröffnung ihrer «Klimaanlage».
30. September 2020 — Dagmar Schräder
Dagmar Schräder Hoch oben auf dem Berg über Wipkingen thront sie, die Reformierte Kirche. Will man sie besuchen, heisst es «Treppen steigen» — und das nicht zu knapp. Das ist auch einer der Gründe, weswegen das Kirchgebäude bis Anfang September über ein Jahr leer gestanden hatte: Für die älteren Kirchgänger*innen war der Aufstieg oftmals schlicht zu beschwerlich und im Winter bei Schnee und Eis kaum machbar. Zudem war das Gebäude schon seit längerem zu gross für den Bedarf in Wipkingen. Wurde die Kirche so zunächst noch ausschliesslich in den Sommermonaten genutzt, war per Ende 2018 definitiv Schluss. Kirchgänger*innen müssen seither auf andere Kirchen ausweichen – in Wipkingen ist etwa die Kirche Letten weiterhin geöffnet.
Klimaanlage ist in Betrieb
Während die Kirchgemeinde in den auf die Schliessung folgenden Monaten auf der Suche nach neuen Nutzungsformen für das Gebäude war, suchte unabhängig davon gleichzeitig die Klimabewegung nach Lokalitäten, wo sich die Aktivist*innen treffen, Transparente malen, Gedanken austauschen und Veranstaltungen abhalten können. Bei einem Treffen zwischen Vertreter*innen der Klimabewegung und Regierungsrätin Jacqueline Fehr im Juni 2019 kam dieses Bedürfnis zur Sprache, woraufhin die Anfrage an die Reformierte Kirche weitergeleitet wurde. Dies erwies sich als glückliche Fügung: Nach einigen Verhandlungen entschied die Kirchenpflege, ihr Gebäude in Wipkingen der Klimabewegung zur befristeten Zwischennutzung zu übergeben.
Willkommensgruss ans Quartier
Seit dem 11. September ist die «Klimaanlage», wie die Kirche nun mindestens für die nächsten zwei Jahre heisst, jetzt offiziell eröffnet. Mit einer Grussbotschaft der Regierung, die von Fehr überbracht wurde, guten Wünschen der Kirchgemeinde, übermittelt durch Kirchenpfleger Michael Braunschweig und ersten Visionen von Vertreter*innen der Klimabewegung, wie die Räumlichkeiten in den nächsten zwei Jahren wieder zu neuem Leben erwachen können, wurde sie an jenem Freitagabend feierlich eingeweiht. Beim anschliessenden gemeinsamen Essen, ersten Diskussionen und Workshops sowie einem «Velokino» erhielt auch die Quartierbevölkerung die Gelegenheit, die neuen Mieter der Kirche kennenzulernen und sich ein Bild davon zu machen, was hier möglich sein soll und kann.
Der Bewegung ein Zuhause geben
Der Verein «Klimastreikräume», der sich selbst als eine lose Projektgruppe innerhalb der Klimabewegung versteht und allen offensteht, die sich für den Klimaschutz einsetzen möchten, will dem Klimastreik in Zürich dadurch ein neues Zuhause geben, das die Bewegung greif- und erlebbar macht. Das Ziel, das die Bewegung anstrebe, sei ganz allgemein «eine soziale und ökologische Gesellschaft ohne Ausbeutung von Mensch und Tier. Etwas kurzfristiger vielleicht ein soziales und ökologisches Quartier Wipkingen. Und natürlich NettoNull bis 2030», erklärt Annik Färber, eine der Aktivistinnen der Bewegung.
Lokale Netze spinnen
Um diese amibitionierten Ziele zu erreichen, soll die «Klimaanlage» in Zukunft konkret dazu dienen, ein Netzwerk aus lokalen Organisationen und Akteur*innen aufzubauen, so Färber weiter. «Wir wollen einen Begegnungsort für alle schaffen, die sich mit der Klimakrise und anderen Krisen, unserer Gesellschaft oder Visionen einer besseren Welt auseinandersetzen wollen. Es soll ein Ort sein, an dem wir versuchen, unsere Utopie zu leben, an dem man auch mal Energie tanken kann.» Die Räumlichkeiten stehen allen Interessierten offen, da gibt es keinerlei Einschränkungen, Diskriminierungen und Ausgrenzungen sollen aussen vor bleiben. «Offen stehen für alle» bedeutet für die Aktivistinnen jedoch auch, dass die Bewegung sich nicht auf eine Religionszugehörigkeit festnageln lassen möchte. Der Raum soll, so wünschen es sich die Aktivist*innen, völlig selbstbestimmt und losgelöst von der Kirchgemeinde existieren und auch nicht mehr als solche verstanden werden.
Auch die Kirchgemeinde profitiert
Die Kirchgemeinde ihrerseits wolle durch die «Leihgabe» «jungen, engagierten Menschen einen Raum bieten, in dem sie Eigenverantwortung übernehmen, sich versammeln, den Austausch mit dem Quartier pflegen und ihre Aktivitäten planen können», erklärt Michael Braunschweig, Kirchenpfleger der reformierten Kirchgemeinde Zürich. Natürlich gebe es bei der Nutzung eines öffentlichen Gebäudes wie einer Kirche gewisse Auflagen – so müsse der Raum auch weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich sein, gewerbliche oder Wohnnutzung seien selbstverständlich verboten und die Einhaltung der Hausordnung müsse ebenfalls gewährleistet sein. Aber abgesehen davon möchte die Kirchgemeinde der Klimabewegung freie Hand in der Gestaltung und Nutzung der Räumlichkeiten lassen. Sie vertraue der Bewegung und könne durch die Gebrauchsleihe in mehrfacher Hinsicht profitieren, so Braunschweig weiter. Erstens sei es der Kirchenpflege wichtig, die Kirchräume auch der Gesellschaft zur Nutzung zur Verfügung zu stellen und nicht einfach brach liegen zu lassen, zweitens sei die Gemeinde sehr gespannt, «welche Ideen die jungen Menschen entwickeln – und wie sie auch die ökologische Transformation der Kirchgemeinde befruchten können», freut sich Braunschweig. Denn, so formulierte es Fehr in ihrer Grussbotschaft: «Es freut mich, dass hier an diesem Wort die Welten der Kirche und diejenige der Klimabewegung zusammenkommen können. In ihren Zielen sind diese tatsächlich viel weniger weit auseinander als man denkt.» Und Braunschweig ergänzt: «Das Thema der Klimabewegung ist auch eines, das ganz oben auf der Agenda der Kirchgemeinde steht – es geht schliesslich um den Erhalt der Schöpfung.»
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