Eine Schweiz ohne Gletscher?

Mit dem Jahr 2025 endet auch das «Internationale Jahr der Erhaltung der Gletscher». Der Glaziologe Lukas Rettig von der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie in Höngg erzählt, welche Chancen den Gletschern hierzulande noch eingeräumt werden.

Der Glaziologe Lukas Rettig . (Foto: zvg)

Die Schweiz ist das Land der Berge – und der Gletscher. Doch Letztere sind in ihrer Existenz bedroht; der Klimawandel setzt ihnen zu, die Eisflächen schmelzen in grossem Stil. Das ist nicht nur optisch ein Verlust, sondern hat sowohl lokal als auch global gravierende Auswirkungen.

Um auf die Problematik aufmerksam zu machen und das Bewusstsein für die Bedeutung von Gletschern im Klimasystem zu schärfen, haben die Vereinten Nationen daher das Jahr 2025 zum «Internationalen Jahr der Erhaltung der Gletscher» erklärt.

Der «Höngger» hat die Gelegenheit genutzt, dem Glaziologen Lukas Rettig von der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich zum Abschluss des Jahres einige Fragen zu stellen.

Lukas Rettig, die Schweizer Gletscher schmelzen. Allein in diesem Jahr hat ihr Volumen nach Angaben der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Landschaft, Biodiversität, Naturgefahren sowie Schnee und Eis (kurz WSL) um drei Prozent abgenommen. Wie gross ist die Fläche momentan noch und in welchem Ausmass hat sie sich in den vergangenen 100 Jahren verändert?

Lukas Rettig: Das letzte vollständige Schweizer Gletscherinventar stammt aus dem Jahr 2016 und umfasst 1400 einzelne Gletscher mit einer Gesamtfläche von knapp 1000 Quadratkilometer. Zum Vergleich: Vor etwa 50 Jahren betrug die vergletscherte Fläche noch mehr als 1300Quadratkilometer und um das Jahr 1850, zum Ende der sogenannten Kleinen Eiszeit, war sie nahezu doppelt so gross wie heute. Was wir also in den letzten 100 Jahren beobachten können, ist ein stetiger Gletscherrückgang, der sich nach dem Jahr 2000 noch einmal beschleunigt hat. Und seit 2016 hat sich die Fläche jedes Jahr weiter verringert.

Ein Vorgang, der sich weiter fortsetzen wird. Was sind die Erwartungen, wie werden sich die Schweizer Gletscher in den kommenden 50 Jahren verändern?

Der Rückgang unserer Gletscher wird sich auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter fortsetzen, so viel ist sicher. Denn Gletscher reagieren immer mit einer gewissen Verzögerung auf Klimaveränderungen. Wir gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2050 nochmal mindestens ein weiteres Drittel des Eises in den Alpen verloren gehen wird. Wie es dann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts weitergeht, hängt massgeblich davon ab, ob wir den Anstieg der globalen Temperaturen auf 1,5 bis 2 Grad begrenzen können. Gelingt dies, dann wird wohl auch im Jahr 2100 noch ein kleiner Teil der Schweizer Gletscher erhalten bleiben, zumindest in den höheren Lagen. Kommt es allerdings zu einem deutlich höheren Temperaturanstieg, dann werden auch diese Gletscher wahrscheinlich bald verschwinden.

Wo schmelzen die Gletscher am schnellsten – global gesehen?

Weltweit sind Gletscher im Rückgang begriffen, es gibt jedoch durchaus auch regionale Unterschiede. Tatsächlich gehören die Alpen zu den Regionen, in denen der prozentuale Verlust besonders stark ausgeprägt ist, auch weil hier die Temperaturen stärker steigen als im globalen Durchschnitt. Es gibt aber andere Regionen auf der Erde, insbesondere in den höheren Breiten, in denen insgesamt mehr Eis schmilzt, einfach weil dort auch mehr und grössere Gletscher existieren.

Der Schwund der Gletscher hat weitreichende Auswirkungen auf die Schweiz – und weltweit. Was ist hier zu erwarten?

Der Gletscherschwund hat eine Vielzahl von Folgen sowohl für die Schweiz als auch auf globaler Ebene und ich kann hier nur einige Beispiele nennen. Einerseits sind die Gletscher ein wichtiger Bestandteil des Wasserkreislaufs und zahlreiche grosse Flüsse werden von Gletscherschmelzwasser gespeist. Wenn die Gletscher verschwinden, hat das also beispielsweise Folgen für die Trinkwasserversorgung, die Energiegewinnung (Stichwort Wasserkraft) und die Landwirtschaft. In der Schweiz sind die Gletscher zudem ein wichtiger Bestandteil des kulturellen Erbes und prägen unser Landschaftsbild. In den Gebirgsregionen müssen sich sowohl Einheimische als auch der Tourismus an diese veränderten Gegebenheiten anpassen. Auch bestimmte Naturgefahren, wie Steinschläge oder Ausbrüche von Gletscherseen könnten an Häufigkeit zunehmen. Auf globaler Ebene hat der Schwund der Gletscher natürlich noch viel drastischere Auswirkungen. Zu nennen ist hier in erster Linie der Anstieg des Meeresspiegels, durch den zahlreiche Küstenregionen weltweit bedroht sind.

Können die Gletscher in einem wirklich kalten Winter auch wieder wachsen?

Im Winter ist es für einen Gletscher gar nicht so entscheidend, wie kalt es ist. Viel wichtiger ist, dass sich über den Winter ausreichend Schnee auf dem Gletscher ansammelt, denn dieser Schnee bildet die Grundlage dafür, dass sich mit der Zeit neues Eis bilden kann. Dafür ist es allerdings notwendig, dass der Schnee im folgenden Sommer nicht wieder vollständig schmilzt, die Temperaturen im Sommer sind also sehr entscheidend. Wenn über mehrere Jahre im Winter mehr Schnee fällt, als im Sommer schmelzen kann, dann können Gletscher theoretisch auch wieder wachsen. Das ist aber angesichts der derzeitigen Klimaentwicklung keine wirklich realistische Annahme.

Es gibt doch auch Bemühungen, die Gletscher durch einfache, pragmatische Lösungen vor der Schmelze zu schützen, etwa durch das Abdecken mit Textilplanen. Bringen diese Massnahmen etwas?

Man sieht tatsächlich hin und wieder, dass Teile von Gletschern mit Textilplanen abgedeckt werden. Theoretisch kann so die Gletscherschmelze auch sehr effizient verringert werden. Ein solches Abdecken der Gletscher wird derzeit allerdings nur lokal begrenzt angewendet und nur dort, wo ein konkreter wirtschaftlicher oder touristischer Nutzen des Gletschers, zum Beispiel für den Wintersport, besteht. Eine grossflächige Abdeckung von ganzen Gletschern, geschweige denn Gebirgen, ist wohl weder technisch realisierbar noch wirtschaftlich zu finanzieren. Zudem sind die ökologischen Auswirkungen dieses Vorgehens noch zu wenig erforscht. Eine Alternative zu einem ehrgeizigen Klimaschutz ist diese Massnahme also sicher nicht.

Was müsste sich denn verändern, damit die Gletscher nicht weiter abschmelzen?

Der einzig effektive Weg, um den Rückgang der Gletscher langfristig aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen ist es, einen weiteren starken Anstieg der globalen Temperaturen zu verhindern. Und das kann nur gelingen, wenn wir rasch unsere Treibhausemissionen reduzieren und in absehbarer Zeit auf null bringen.

2025 ist das Internationale Jahr zum Erhalt der Gletscher. Welche Ziele wurden dieses Jahr verfolgt?  

Wir hoffen natürlich, dass das Internationale Jahr zum Erhalt der Gletscher die Aufmerksamkeit und das Problembewusstsein sowohl in der Bevölkerung als auch bei Entscheidungsträgern gestärkt hat. Es ist wichtig, dass wir dokumentieren, was passiert, aber auch aufzeigen, warum es sich lohnt, unser Klima und somit unsere Gletscher nachhaltig zu schützen.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage. Was haben Sie sich von der vor wenigen Tagen beendeten Klimakonferenz im brasilianischen Belem erwartet?

Die Hoffnung war natürlich, dass es den verhandelnden Parteien gelingen würde, sich auf verbindliche Ziele zum Klimaschutz zu einigen und dass sie einen konkreten Plan zum Ausstieg aus den fossilen Energien vorlegen würden. Nun wurden zwar einige Abmachungen getroffen, aber es bleibt abzuwarten, ob und wie diese dann auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Persönlich hätte ich mir ambitioniertere Ziele gewünscht, denn die Zeit drängt, und jedes Zehntelgrad zählt, um die Folgen des Klimawandels und damit auch des Gletscherrückgangs abzuschwächen.

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