Quartierleben
Externalisierung: Europa lagert seine Grenzen aus
Auf dem Park Platz und an anderen Orten in Zürich fanden vom 6. bis 12. September die enough. – Aktionstage zu Migrationskämpfen und antirassistischem Widerstand statt. Im Rahmen davon entstand eine Zeitschrift, in der folgender Artikel publiziert wurde.
21. September 2021 — Eingesandter Artikel
«Die massiven und regelmässigen Abschiebungen aus Algerien nach Niger wurden auch im Juli fortgesetzt. Mit mindestens 1288 Personen, die am 16. und 18. Juli abgeschoben wurden, steigt die Zahl der seit Anfang 2021 abgeschobenen Personen auf mindestens 14 869 Personen.»*
Im Interesse Europas schiebt Algerien in grossem Ausmass Migrant*innen nach Niger ab. Das entspricht einem Trend: immer mehr afrikanische Staaten schliessen mit der Europäischen Union Kooperationsverträge zu Migrationsangelegenheiten ab. Mit diesen Kooperationsverträgen zielt die EU auf die absolute Kontrolle über Migration in Richtung Europa. Dafür hat sie mittlerweile einen ganzen Koffer voller Instrumente, Strategien und Partner*innen, mit denen sie ihre Migrationspolitik auslagert und Drittstaaten zu Aufrüstung, Grenzinfrastruktur und Migrationskontrolle drängt.
Aufrüsten im Namen der Migrationskontrolle
Dabei scheut die EU auch vor der Zusammenarbeit mit der sogenannten Libyschen Küstenwache nicht zurück, einem Zusammenschluss bewaffneter Milizen. Sie sind nachweislich an Pushbacks beteiligt, in dem sie Boote, die in Richtung Italien und Malta fahren, bis tief in internationale Gewässer hinein abfangen und zurückschaffen – ein von Europa geförderter, klarer Verstoss gegen internationales Recht. Tausende Menschen harren in Libyen in von diesen Gruppen betriebenen Gefängnissen und Lagern aus, werden in diesen gefoltert oder aus diesen heraus zum Teil gegen Geld weiter- verkauft. Die EU als solches, aber auch einzelne EU-Mitgliedsstaaten, finanzieren diese Praktiken. Italien beispielweise schenkte der sogenannten libyschen Küstenwache mindestens sechs Patrouillenboote. Diese dienen eher dem Abfangen von migrantischen Booten, als Rettungszwecken. Allein im Jahr 2021 gab es diverse dokumentierte Fälle, bei der die sogenannte libysche Küstenwache Menschen in Seenot sich selbst überliess. Dutzende Menschen ertranken dabei. Auch in Sudan kooperiert die EU mit Akteuren, die schweren Verbrechen beschuldigt werden, wie zum Beispiel die Rapid Support Forces RSF. Die RSF entstanden aus einer Miliz, die in den Genozid in Darfur verwickelt war und nun unter neuem Namen mit der Grenzkontrolle im Sudan betraut ist. Die Migrationskontrolle im Sinne der EU führt dazu, dass diese die RSF finanziell als auch logistisch unterstützt – und damit auch die gewaltsame Unterdrückung von Protesten durch deren bewaffnete Einheiten oder deren Geschäfte, sprich die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen in Goldminen.
Neben der Aufrüstung von Grenzen greift die EU auch tief in gesellschaftliche Strukturen ein. So verabschiedete die nigrische Regierung 2015 unter erheblichem Druck der EU ein Gesetz, das faktisch sowohl migrantische als auch nicht-migrantische grenzüberschreitende Mobilitäten kriminalisiert. Während Migrant*innen dadurch auf immer gefährlichere Migrationsrouten gezwungen werden, brach dadurch die Lebensgrundlage eines erheblichen Teils der nigrischen Bevölkerung zusammen: Mit der Einführung dieses Gesetzes versiegten etablierte Handelsrouten und die Infrastruktur für Migrant*innen wurde kriminalisiert. Viele der nun kriminalisierten Tätigkeiten gingen auf frühere Friedensverhandlungen zurück, die nun von den betroffenen Gruppen in Frage gestellt werden.
Externalisierung und ihre Folgen
Die Externalisierung der EU-Migrationspolitik hat regional unterschiedliche Folgen – in jedem Fall aber profitiert die Rüstungsindustrie in bemerkenswerter Weise. Ein Aktivist einer Initiative in Agadez sagte dazu: «Keine einzige Kugel, kein einziger Meter Stacheldraht, keine militärischen Güter, die der Grenzsicherung dienen, wurden in Afrika produziert. Sie stammen alle aus Europa.» Mit der Aufrüstung im Namen der Migrationsabwehr schafft die EU also auch einen milliardenschweren Exportmarkt für europäische Rüstungsgüter aller Art: von Waffen über Überwachungstechnologie bis zu Transport- und Infrastrukturprodukten. Und durch enge Beziehungen zu politischen Entscheidungsträger*innen mischt die Rüstungsindustrie in der Schaffung dieses Absatzmarktes gleich selbst mit.
Mit der Auslagerung der Migrationsabwehr gehen aber auch weitere wirtschaftliche und politische Entwicklungen einher. Die Auslagerung der europäischen Grenzen ist eng mit einer neokolonialen Wirtschaftspolitik verwoben: Währendem Europa nach wie vor eines der Zentren der globalen Wirtschaft ist, und Geld- und Warenflüsse vorwiegend in eine Richtung fliessen, bleibt dieses Recht den Menschen verwehrt. Dieses Missverhältnis steht in Kontinuität zur Logik und Gestalt des Kolonialismus. Arbeitskräfte in gewünschter Menge, seltene Ressourcen, landwirtschaftliche Anbauflächen und natürlich das Geld lokaler Eliten sind in Europa gern gesehen– sie sind gar essenzieller Bestandteil für den vermeintlichen Wohlstand, den Europa sich laut Eigendarstellung hart erarbeitete. Migrant*innen aber werden als Bedrohung für den Reichtum in Europa dargestellt. Diese heraufbeschworenen Bedrohungsszenarien und die damit verbundenen, tief in der Europäischen Gesellschaft verankerten Rassismen dienen als ideologische Grundlage für die Politik der Migrationsabwehr. Darüber hinaus sind sie wichtige Rechtfertigung für den stetigen Ausbau des Sicherheitsapparates und die Aufrechterhaltung globaler Ungleichheiten.
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