Rätsel um ein altes Bild

Wer war der letzte Laternenanzünder von Wipkingen? Welche Motivation hatte die Malerin Barbara Greuter? Und was verbindet die beiden? Eine Spurensuche in Wipkingen – und eine Rehabilitation.

Gemälde «Die alte Dorfstrasse Wipkingen» von Mathilde Barbara Greuter-Wetter von 1953, signiert MG. (Foto: Ursula Merz)

Von Ursula Merz

Auf der Rückseite des Gemäldes «Die alte Dorfstrasse Wipkingen», das mir meine Nachbarin, Margrit Aeschlimann nach ihrem Tod vererbt hat, klebt ein kleiner Artikel aus der Quartierzeitung «Käferberg» vom 22. Juli 1988. Darin steht, dass an der Dorfstrasse 31 der letzte Laternenanzünder von Wipkingen gewohnt hat. Das Bild, 1953 gemalt von Barbara Greuter, wie mir meine Nachbarin schrieb, zeigt die alte Häusergruppe Dorfstrasse 25 bis 33. In den Farben Gelb und Braun bietet es einen sonnigen und einladenden Anblick, gleichzeitig hat es, so ganz ohne Menschen, etwas Geheimnisvolles, ja Bedrohliches an sich.

«Wipkingen einst und jetzt», Artikel von Felix Müller in der Quartierzeitung «Käferberg» vom 22. Juli 1988. (Foto: Ursula Merz)

Ich sehe ein Kind spazieren. Es kommt in eine Strasse mit drei gelben Häusern und schräg dahinter einem grauen Haus. Vor den Fenstern leuchten rote Geranien. Das Kind lacht. «Hier ist es so hell und warm, da möchte ich hineingehen.» Es steigt die erste steile Treppe hoch, aber die Tür ist verschlossen. Vor einem Fenster des Nachbarhauses unter dem Dach hängen ein blauer Pullover und ein rotes und weisses Tuch.

«Das Haus erkennt mich nicht, ich muss mich umziehen.» Das Kind klettert das Traufrohr hoch, nimmt die Kleider von der Leine und rutscht wieder zu Boden. Nun zieht es den Pullover an und bindet sich das rote Tuch um den Hals. Wieder schaut es zur Tür hinauf, zaghaft, denn nun hat es ein schlechtes Gewissen. Beim grauen Haus dahinter am Ende der Treppe meint es einen schwarzen Schatten zu sehen. «Ist da eine offene Tür, steht da jemand?» Ängstlich verharrt es und getraut sich nicht weiter.

Aber das ist nur Fantasie. Ich will mehr über den realen Laternenanzünder erfahren und das Haus, in dem er wohnte. Gab es ihn überhaupt, und wie hiess er? Worin bestand seine Arbeit? Und wer war die Malerin Barbara Greuter? Wie kam sie dazu, diese Häuser zu malen? Fragen über Fragen. Ich beginne zu recherchieren: im Stadtarchiv Zürich, im Baugeschichtlichen Archiv, in alten Adressbüchern, in geschichtlichen Werken, in Zeitungen, bei Firmen.

Erste Hinweise

1856 nahm das Gaswerk in Zürich seinen Betrieb auf. Es bediente 400 öffentliche Gaslampen – aber nicht in Wipkingen. 1880 lebten in Wipkingen nur 1933 Personen. Das Dorf an der Limmat war noch geprägt von Landwirtschaft und Kleingewerbe. 1881 wurde in Wipkingen die Wasserversorgung erstellt, 1888 erhielten die Strassen Namen und die Häuser Nummern. Erst als 1892 das Elektrizitätswerk am Letten eingeweiht wurde − das erste in Zürich −, wurde das Dorf interessant für die Stadt.

1893 wurde Wipkingen in die Stadt Zürich eingemeindet, 1894 erhielt das Quartier Anschluss an den Eisenbahnverkehr. Ab dann begann die grosse Umgestaltung. Die Bevölkerung wuchs, Altes wurde abgerissen, neue Strassen, Häuser, Brücken, Kirchen wurden errichtet. 1941 zählte das Quartier 16 470 Reformierte und 5 803 Katholiken.

Trotz dieser Entwicklung blieb Wipkingen ein eher armer Stadtteil, in dem viele Arbeiter lebten. Die Gemeinnützige Gesellschaft und private Wohltäter unterstützten Bedürftige, richteten eine Suppenanstalt und einen Kindergarten ein und organisierten einen Heizmaterialienverkauf. Nach der Eingemeindung übernahm die Stadt allmählich diese sozialen Aufgaben. Auch der neu gegründete Quartierverein setzte sich für die Modernisierung ein, zum Beispiel für den Bau von Trottoirs an der Höngger- und der Dorfstrasse. Doch das Leben blieb für die einfachen Arbeiter hart, auch für die Tagelöhner wie einen Laternenanzünder.

Giovanna Feusi untersuchte die strenge, gesundheitlich anspruchsvolle und schlecht bezahlte Arbeit der Laternenanzünder. Diese wurden vom Gaswerk angestellt und angewiesen, sie mussten die Lampen nach einem bestimmten Plan abends anzünden, und im Morgengrauen wieder auslöschen, sie warten, putzen, die Flammen regulieren und gegebenenfalls die Zuleitungsrohre auftauen, und das zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter.

Die Arbeit wurde meist nebenberuflich ausgeführt, Kleinhandwerker besserten damit ihr Einkommen auf. Oft waren sie auch dem Ärger der Stadtbewohner ausgesetzt, die sich wegen ungenügendem Licht beschwerten. Obwohl das erste Elektrizitätskraftwerk in Zürich am Letten entstand und der Bahnhof Letten 1926 elektrifiziert wurde, gingen noch viele Jahre ins Land, bis auch Wipkingen von einer flächendeckenden elektrischen Strassenbeleuchtung profitieren konnte.

Emil Siegfried schreibt in seinen «Plaudereien über Alt-Wipkingen»: Einige in der Gemeinde wollten sich die Beleuchtungskosten sparen und empfahlen den Leuten, rechtzeitig zu Bett zu gehen. «Mit der Zeit kamen dann doch einige Versuche zur Einführung der Strassenbeleuchtung an die hierfür notwendigsten Stellen zustande. Es handelte sich allerdings um äusserst bescheidene Anfänge mit Petrol-Laternen, welche später durch Neolin und noch später durch Azetylen und Gas ersetzt wurden, bis schliesslich auch im städtisch gewordenen Wipkingen die Versorgung mit Elektrizität ihren Siegeszug antrat und ‘Laubkäfigen’ damit endgültig aus dem dunklen Erdteil austrat.»

Das Haus

Dorfstrasse 25−33 vom 24. März 1933, Haus 31 von Gottlieb Metzger senior mit Schumacher-Schild. (Foto: Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich, BAZ_146739.tiff)

Die Häuser Dorfstrasse 25 bis 33, auch Künggenhäuser genannt, befanden sich im ehemaligen Kern von Wipkingen. Die Dorfstrasse führte von der Rosengartenstrasse zur Hönggerstrasse, die Nummern 25 und 27 stammten von 1832 und 1860 und wurden als Kattundruckereien erstellt, um dann, als das Gewerbe nicht mehr lukrativ war, 1864 in Wohnhäuser umgewandelt zu werden.

Das Haus Dorfstrasse 29/31 war älter und wurde vor 1810 erbaut. Um 1900 trug es noch die Nummer 59/61, aber auf einer Karte von 1913 hatte es bereits die Nummern 29/31. Es handelte sich bei dem Gebäude um ein Doppelhaus, wie alte Fotos von 1933 und 1958 deutlich zeigen. Das Haus hatte zwar nur eine Aussentreppe, aber zwei Eingänge und zwei Hausnummern: 29 und 31. Es wies zwei Stockwerke und ein tief, mit Ziegeln gedecktes Dach auf.

Plan Wipkingen von 1900 mit den Häusern 59/61. (Foto: Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich)

Die schiefen, ausgetretenen Steinstufen der Aussentreppe mit Holzgeländer führten ins Obergeschoss. Von der Vorderseite sieht das Haus klein aus, ein Foto von 1958 zeigt die Rückseite mit Garten und da ist deutlich erkennbar, dass es sich um zwei Häuser handelte, die Anordnung der Fenster ist unterschiedlich, auch sieht man noch das Fachwerk. Barbara Greuter hat das auf ihrem Bild ebenfalls angedeutet.

Die Familie Metzger

Mindestens ab 1895 wohnte ein Gottlieb Metzger in diesem Haus, im Adressbuch von 1904 ist er an der Nr. 31 als Schustermeister und ab 1920 als Besitzer des Hauses aufgeführt. Auf einem Foto von 1933 zeugt ein Schild mit Namen. «G. Metzger» und «Schumacher» am Haus davon. Gemäss Einwohnermeldekarte wohnte Gottlieb Metzger senior (geboren 1866) bis zu seinem Tod 1943 an der Dorfstrasse 31. Er war in erster Ehe mit Elise Tobler verheiratet.

Sie hatten fünf Kinder, drei überlebten: Elise, Gottlieb (1899) und Heinrich. Als Beruf wird Schustermeister angegeben, dann durchgestrichen und durch Laternenbesorger ersetzt. Auch in den Adressbüchern aus der Zeit steht Laternenbesorger. Wie ich verschiedenen in- und ausländischen Quellen aus dem 19. Jahrhundert entnehmen kann, wurde in Stellenausschreibungen z.B. eines städtischen Gaswerks, je nach Gewichtung Strassenlaternen-, Lampenbesorger oder -putzer gesucht. Es handelte sich also um den gleichen Beruf.

Plan Wipkingen von 1913, auf dem die gleichen Häuser bereits die Nummern 29/31 aufweisen. (Foto: Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich)

Nach dem Tod von Elise Metzger (1916) heiratete Gottlieb Metzger senior, Schustermeister, 1919 in zweiter Ehe Maria Altdorfer. Der Ehe entspringen die Kinder Walter (1920) und Albert (1925). Gottlieb Metzger junior, der Sohn aus erster Ehe, zieht ab 1930 auch an die Dorfstrasse 31 und bleibt dort bis 1955 gemeldet, auch wenn er an verschiedenen Orten wohnte. Er war ebenfalls Schumacher.

Gemäss Adressbuch der Stadt Zürich lebten 1942 im Haus Gottlieb Metzger senior (Laternenbesorger), Gottlieb Metzger junior (Schuster), Walter Metzger (Sanitärmonteur) und Albert Metzger (Automechaniker). Die Frau und Mutter Maria Metzger-Altdorfer findet erst als Witwe von 1945 bis 1958 Erwähnung.

Damit ist klar, dass Gottlieb Metzger senior und Gottlieb Metzger junior Schuhmacher waren, der Senior immer, der Junior zeitweise an der Dorfstrasse 31 lebte. Ab 1930 ist Gottlieb Metzger senior als Laternenbesorger aufgeführt. Auf einem Foto von 1939 ist das Schuhmacherschild verschwunden. Der Artikel im «Käferberg» muss sich also auf Gottlieb Metzger senior als letzter Laternenanzünder beziehen, der am 18. Dezember 1943 verstarb.

Die Erinnerung bleibt

Auf einem Foto vom 24. März 1933, das den Häuserkomplex Dorfstrasse 25 bis 33 genau wie auf dem Bild von Barbara Greuter zeigt, sieht man auf der Aussentreppe drei Buben stehen. Könnten davon zwei etwa die Söhne des Laternenbesorgers Gottlieb Metzger senior, Walter und Albert, sein? Vom Alter her − Walter wäre dann 13, Albert 8− wäre es möglich.

1957/8 wurde das Haus Dorfstrasse 31 an den Buchdrucker Konrad Neidhart und den Kaufmann Robert Schön verkauft; in diesem Jahr wurde der ganze Häuserkomplex Dorfstrasse 25−33 abgerissen, um dem heutigen Bau der Druckerei Neidhart + Schön Platz zu machen. Sogar die NZZ bedauerte 1958 das Verschwinden dieses alten Teils von Wipkingen.

Barbara Greuter hat das Bild 1953 realitätsnah, wie die Fotos zeigen, gemalt. Die Witwe Metzger hätte der Kunstmalerin vom Laternenbesorger und dem drohenden Abriss erzählt haben können. Wohnte Barbara Greuter gar selbst in Wipkingen? Wer war sie überhaupt, gibt es noch andere Zeugnisse von ihr?

Wiederum helfen die Adressbücher der Stadt Zürich, die Einwohnermeldekarten und der Spürsinn der freundlichen Mitarbeiterinnen des Stadtarchivs, Nadine Schwald, und des Baugeschichtlichen Archivs, Barbara Vogel, weiter. Eine Mathilde Barbara Greuter-Wetter, Jahrgang 1895, zog mit ihrem Mann Otto Greuter, kaufmännischer Angestellter, 1939 von St. Gallen nach Zürich.

Zuerst wohnte das Paar an der Carmenstrasse, danach 1941 bis 1944 an der Rütschistrasse 29, aber dann, von 1945 bis 1955 tatsächlich an der Dorfstrasse 66. 1956 zogen sie um an die Rötelstrasse 93, wo der Gatte Otto 1967 verstarb, die Witwe Mathilde Greuter aber bis zu ihrem Tod 1986 wohnen blieb. Doch ein Zweifel blieb: War diese Frau wirklich die gesuchte Malerin? Weitere Quellen schaffen Klarheit.

1970 organisierte die Präsidialabteilung der Stadt Zürich ein Kunstschiff. Im entsprechenden Flyer  ist eine Barbara Greuter, Jahrgang 1895, mit drei Bildern – «Zürich» (Oel), «Platzspitz» (Aquarell) und «Beim Hafen Riesbach» (Aquarell) − aufgeführt. Die Ausstellung stand unter dem Motto «Zürcher Künstler, wie sie Zürich sahen, wie sie Zürich sehen».

Einige Teilnehmer reichten auf Wunsch auch frühere Werke ein. Es nahmen 166 Künstler teil: 93 Maler, 23 Grafiker, Architekten und andere Berufe und Freizeitmaler. Das Geburtsjahr, 1895, auf dem Flyer und auf der Meldekarte ist das gleiche, es muss sich also um Mathilde Barbara Greuter-Wetter handeln. Sie wird als Malerin beide Namen, Barbara und Mathilde, verwendet haben.

Mein Bild hat sie mit MG signiert.  Das «Schweizer Frauenblatt» nimmt in einem Artikel «Frau und Kunst» ebenfalls Bezug auf das Kunstschiff 1970 und erwähnt Barbara Greuter als Künstlerin. Fünf Jahre später wird sie im Jahresbericht des Quartiervereins Wipkingen 1975 wieder als Barbara Greuter erwähnt: 

«Eine von der GGW organisierte Kunstausstellung im Kirchgemeindehaus liess vom 11. bis 22. November 1975 fünfzehn Wipkinger Künstler zum Zuge kommen, darunter Professionals wie Laienmaler. (…) Neben ‘Altmeistern wie Walter Moor, Barbara Greuter (…) waren auch manche Junge anzutreffen (…) Einige Teilnehmer haben (…) nostalgische Porträts aus dem eigenen Quartier beigebracht (…) und retteten damit wenigstens für die Erinnerung ein Stück jenes alten Wipkingen, das leider mehr und mehr zu verschwinden verurteilt ist.» Meine Nachbarin könnte das Bild also an dieser Ausstellung gekauft haben.

Im Dunst der Geschichte

Das Rätsel um das Bild ist gelöst, der Laternenanzünder hat seinen Namen zurückerhalten und derjenige der Kunstmalerin wurde der Vergessenheit entrissen, beide haben ein Gesicht bekommen. Ob es in jedem Detail den Tatsachen entspricht, das bleibt im Dunst der Geschichte verborgen.

Das Bild «Die alte Dorfstrasse Wipkingen» von Barbara Greuter ist 2025 von Höngg nach Wipkingen zurückgekehrt. Nach zehn Jahren habe ich es Kurt Gammeter überreicht, der sich zusammen mit Martin Bürlimann seit Jahren um das Quartier bemüht, seine Veränderungen in Wort und Bild dokumentiert und sein Gedächtnis in Sachbüchern und der Rubrik «Damals» in der Quartierzeitung «Wipkinger» bewahrt. Vielleicht findet das Bild einmal seinen Platz in einem Quartiermuseum.

Margrit Aeschlimann, meine liebenswürdige Nachbarin am Bruggerweg in Wipkingen, später bis 2015 im Gesundheitszentrum für das Alter Sydefädeli. (Foto: Ursula Merz)

Quellen

Auskunft EWZ Netze, Thomas Rutschi, 12.5.2025.

Emil Siegfried, Plaudereien über Alt-Wipkingen. Aus den Jugenderinnerungen eines alten Gardisten, 1942 

J. Frei, 100 Jahre GGW – 100 Jahre Wipkingen1859-1959.

Ursina Jakob, Daniel Kurz, Wipkinger Lebens- und Verkehrsräume. Geschichte eines Zürcher Stadtquartiers 1893-1993, 1993.

Giovanna Feusi, Laternen oder Mondschein. Zur Strassenbeleuchtung in Zürichs 19. Jahrhundert, 2022.

«Kunstschiff 1970» und Wechselausstellungen im «Kulturfoyer MGB» am Limmatplatz, Zürich. Thema «Zürcher Künstler, wie sie Zürich sahen, wie sie Zürich sehen».

Schweizer Frauenblatt, 30. März 1970.

Jahresbericht des Quartiervereins Wipkingen 1975, D.K. Stüber.

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