Vor dem Obergericht des Kantons Zürich

Einmal vor Gericht stehen – das klingt für viele wohl wie ein etwas seltsam ­an­mutender Wunsch. Dagmar Schräder hat die Einladung erhalten, dieses unter kom­petenter ­Führung zu besichtigen.

Hier wird für Gerechtigkeit gesorgt: das Obergericht am Hirschengraben in Zürich. (Foto: Roland Schmid)

Gut, direkt in Höngg steht das Obergericht nicht. Vielmehr befindet es sich mitten in der Stadt, am Hirschengraben. Aber dennoch ist die Institution auch für die Höngger Bevölkerung von Relevanz. Grund genug, sich einmal anzuschauen, was hinter den altehrwürdigen Mauern eigentlich so passiert. Noch dazu, wenn ein Höngger Jurist und Richter zu einer Führung durch die Räumlichkeiten einlädt.

Oberste kantonale Instanz

Freundlich grüsst die Dame von der Rezeption die Ankommende und fragt nach ihrem Begehr. Denn einfach so reinspazieren kann man in das Gebäude aus Sicherheitsgründen nicht. Doch die Autorin muss nicht lange warten, dann wird sie von Roland Schmid empfangen. Das Obergericht ist sein Arbeitsplatz, er ist Oberrichter am Zürcher Handelsgericht, das gemeinsam mit Straf- und Zivilgericht hier ansässig ist.

Die drei strafrechtlichen und zwei zivilrechtlichen Kammern des Gerichts sind die oberste kantonale Instanz für die entsprechenden Belange und den zwölf Bezirksgerichten im Kanton übergeordnet. Hierher gelangen Bezirksgerichtsurteile, die eine der beteiligten Parteien nicht anerkennt und sie deshalb zur Neuüberprüfung an die nächste Instanz weiterzieht.

Beim Handelsgericht ist das Vorgehen ein wenig anders: Dieses amtet als erstinstanzliches Gericht für teilweise sehr grosse und komplexe nationale und internationale Wirtschaftsfälle, weshalb es keine bezirksgerichtliche Instanz gibt. Insgesamt sind hier 36 voll- und 16 teilamtliche Oberrichterinnen tätig, die von rund 200 Mitarbeitenden unterstützt werden.

Ein Einblick in fremde Schicksale

Auf dem Bildschirm beim Empfang sind die nächsten öffentlichen Prozesstermine aufgelistet. Das nutzen die Journalistin und ihr Begleiter aus und begeben sich in den grossen Gerichtssaal, wo gerade eine Strafverhandlung beginnt. Der Raum ist von einer schlichten Eleganz, Holz prägt das Bild. Zwei Richter und eine Richterin sitzen hinter ihrem erhöhten Pult, neben sich die Gerichtsschreiberin, die alles protokolliert.

Der Beschuldigte und sein Verteidiger sitzen ihnen gegenüber, die Vertretung der Staatsanwaltschaft hat sich entschuldigen lassen. Publikum ist nicht viel zu finden, lediglich drei Familienangehörige interessieren sich für den Fall. Der Sachverhalt ist vor Bezirksgericht schon ausführlich besprochen, nun geht es einzig um die Frage, ob die vom Beschuldigten erhobene Berufung gutgeheissen oder abgewiesen wird.

Der Angeklagte muss dabei viele Fragen teils intimer Natur über sich ergehen lassen, das Richter-Trio verlangt genaue Auskünfte. Das sei wichtig, erklärt Schmid, denn die persönlichen Verhältnisse sind neben dem eigentlichen Verschulden ein wichtiger Teil der Strafzumessung. Bereitwillig gibt der Beschuldigte Auskunft, schliesslich geht es um nicht weniger als seine Zukunft, sogar ein Landesverweis steht zur Diskussion. Anschliessend erhält der Anwalt die Gelegenheit, zu begründen, warum er das Urteil des Bezirksgerichts für unangemessen hält.

So spannend es ist, den Fall mitzuverfolgen – ein wenig voyeuristisch fühlt sich die Reporterin gleichwohl. Es ist seltsam zu erleben, wie das Schicksal einer fremden Person besprochen wird und gleichzeitig so unbeteiligt zu bleiben.

Nach Befragung und Plädoyer zieht sich das Richterkollegium zur Beratung zurück. Bis zur Urteilsverkündung zu warten, dafür fehlt der Schreibenden leider die Zeit – diese ist nämlich bereits weit fortgeschritten.

Ein geschichtsträchtiger Ort

Stattdessen geht es jetzt auf einen kleinen Spaziergang durch die verworrenen Flure des Gerichtsgebäudes, ergänzt durch Informationen zur Gebäudehistorie. Diese ist nämlich fast so bewegt wie die Geschichten, die sich im Innern abspielen. Denn auf den Fundamenten, auf denen sich das heutige Gericht befindet, wurden früher weniger juristische, als vielmehr geistliche Angelegenheiten verhandelt: Hier befand sich seit dem 13. Jahrhundert das Barfüsserkloster, von dem der eindrückliche Kreuzgang bis heute erhalten ist.

Im Zuge der Reformation wurde das Kloster aufgehoben und 300 Jahre später zu einem anderen Zweck wiederbelebt: 1834 erfüllte das sogenannte Aktientheater, das erste Zürcher Stadttheater, die ehemaligen Klostermauern mit neuem Leben. Auch ein Casino entstand auf dem Gelände.

Parallel zu den Vergnügungsstätten bezog in den 1830er-Jahren auch das Obergericht das Gelände. Es belegte zunächst ein Nachbarsgebäude und übernahm später auch die Grundstücke von Casino und ehemaligem Theater. Im Jahr 2012 schliesslich wurden die Gebäude renoviert und durch einen Erweiterungsbau zu einem Gesamtkomplex verbunden. Diesen durchstreift die Schreibende nun, erhält Einblick in die unzähligen Büros der Richterinnen und Mitarbeitenden, die sich ebenso wie die Gerichtssäle im eleganten Nussholz präsentieren.

Eine kurze Visite in der Cafeteria und ein Augenschein in der umfangreichen Bibliothek runden die Tour ab, bevor als Letztes noch ein Blick auf den Innenhof geworfen wird. Und da ist er, der Klosterkreuzgang. Schmiegt sich ins Innere des Gebäudekomplexes und wirkt fast so, als hielte er das Ganze zusammen. Ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

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