«Weck’ alles Edle, Schöne!»

Die Vereine haben zum Entstehen und Gedeihen der Eidgenossenschaft mehr beigetragen als man gemeinhin annimmt. Der Männerchor Wipkingen ist ein eindrückliches Beispiel dafür.

Der Männerchor Wipkingen am 25. Eidgenössischen Sängerfest Basel im Juli 1935.

Der «Schweizer Sängervater» Hans Georg Nägeli gründete in den 1820er Jahren Männerchöre zwecks Pflege des Gesangs, der Freundschaft und der Vaterlandsliebe. 1828 wurde der Gesangsverein Limmattal gegründet, aus dem der Männerchor Wipkingen hervorging. Eigene Protokolle gibt es erst seit 1855. Treibende Kraft bei der Gründung des Wipkinger Männerchors war der Komponist Hans-Ulrich Wehrli. Wehrli arbeitete wie sein Vater in der Hofmeisterschen Kattundruckerei im Letten. Er komponierte Märsche und Lieder, seine bekannteste Melodie ist das Sempacherlied: «Lasst hören aus alter Zeit…». Wehrli verstarb 1839 im Alter von 45 Jahren. Er hinterliess einen reichen musikalischen Schatz und eine Reihe von gut organisierten Vereinen. Seine Familie allerdings hinterblieb in Armut; das musikalische Schaffen brachte Wehrli wenig ein.
Als Übungslokal diente das Klassenzimmer im Schulhaus an der Hönggerstrasse. Dort hielt der Verein auch die Sitzungen und Versammlungen ab. Die 1830er und 1840er Jahre waren die Zeit der Vereine: Schützen-, Turnvereine und Männerchöre haben zur Gründung der modernen Schweiz mit der Verfassung von 1848 mehr beigetragen als man denkt. Der Männerchor Wipkingen war überaus aktiv, sowohl musikalisch als auch gesellschaftlich. Seine Mitglieder waren engagiert in der Gemeinde. Auch die gesanglichen Leistungen waren beachtlich: Der Männerchor Wipkingen gewann eine Reihe von Preisen und Auszeichnungen an Veranstaltungen in der ganzen Schweiz.
Beeindruckend ist die Namensliste des Sängervereins um 1828. Sie ist ein Abbild der damaligen Gemeinde:

1. Tenor: Ulrich Wehrli (Direktor), Lehrer Weber, Heinrich Meyer, Salomon Rütschi, Heinrich Binder.
2. Tenor: Rudolf Berner, Rudolf Hoffmann, Heinrich Geering, Johannes Nötzli.
1. Bass: Pfarrer Zimmermann, Gemeindeammann Schäppi, Johannes Kägi, Caspar von Tobel, Johannes Egli, Rudolf Syfrig, Konrad Aeberli, Heinrich Egli, Heinrich Schuler.
2. Bass: Konrad Rütschi (Präsident), Johannes Werder, Heinrich von Tobel, Heinrich Bickel, Heinrich Näf, Jakob Fürst, Heinrich Syfrig, Hauptmann Laubi.

Praktisch alle Lehrer, Gewerbetreibende, Doktoren und Gemeinderäte waren Mitglied. Auch Angestellte, Arbeiter und Freunde des Gesangs trafen sich im Männerchor. Bei allen wichtigen Anlässen des Dorfes sang der Verein: An den Bundesfeiern, beim jährlichen Winterkonzert, an Silvester, bei Abendunterhaltungen, an Abdankungen und Dorffesten. Die Geselligkeit kam nicht zu kurz. Im Dorf war man nicht immer glücklich über die Dominanz der Sänger in politischen und gesellschaftlichen Belangen. Der Männerchor war im 19. Jahrhundert ein Gegengewicht zur Macht der Kirche und der Autorität der Lehrer. Der Chor war auch das Sprungbrett für lokale Karrieren. So wählte man zum Beispiel Heinrich Kleinert, letzter Gemeindepräsident von Wipkingen, 1875 im Alter von 22 Jahren zum Vizepräsidenten des Chors, da der alte Vorstand nach einem Streit kollektiv das Handtuch geworfen hatte. Kleinert blieb bis 1891 Präsident des Männerchors, was für seine organisatorischen und politischen Fähigkeiten sprach.

Fahnen

1859 ist erstmals die Vereinsfahne erwähnt. Seidenfabrikant Salomon Rütschi spendete dafür die Seide. Die Fahne kam ins Vereinslokal im Restaurant Sonnenberg. Auf der einen Seite stand: «Männerchor Wipkingen», auf der anderen:

«Des Sängers Herz sei zugewandt
Der Freiheit, Gott und Vaterland!»
1905 weihte der Verein seine zweite Fahne ein. Der Wahlspruch auf der zweiten Fahne ist nicht mehr bekannt. 1934 leistete sich der Männerchor die dritte Fahne; diesmal lautete der Wahlspruch: «Wir sind Wipkinger Sänger, aber auch Zürcher und wollen gute Schweizer sein.» Im oberen Teil der Fahne ist das Hufeisen auf gelbem Grund zu sehen, eine Lyra einschliessend, im unteren Teil das Schweizer Kreuz.

Katholische Konkurrenz

Pfarrer Vogt von der katholischen Kirche kaufte 1898 den Neuhof, in dem der Männerchor probte und Aufführungen abhielt. Dies führte zu Spannungen im Quartier, da die Bierhalle im Neuhof-Saal (vormals Teil der Postkutschenstation, bei der heutigen Hönggerstrasse/Röschibachstrasse) auch der Jugend als Tanzlokal diente. Regelmässig gab es Lichtspielvorträge und Theateraufführungen. Damit geriet das Zentrum des Dorflebens unversehens in katholische Hand. Anstatt Musik und Tanz gab es nun katholische Gottesdienste in der reformierten Gemeinde. Der Männerchor hatte für mehrere Jahre kein eigenes Lokal mehr, bis 1910 das Casino Wipkingen an der Zschokkestrasse eröffnete. Das Säli war etwas klein geraten, aber gemütlich, und bald schloss es der Verein ins Herz und machte es zum offiziellen Lokal. Im Krieg kam das Lokal in Nöte, als nach der Grippeepidemie Veranstaltungen verboten waren und das öffentliche Leben monatelang fast stillstand. 1918 musste das Casino Wipkingen schliessen.
Das gesellschaftliche und politische Leben war geprägt durch Persönlichkeiten aus dem Männerchor. Turnvereine und Schützenvereine gab es auch, diese erreichten in Wipkingen aber im Gegensatz zu anderen Zürcher Vorortsgemeinden nie die Dominanz des Männerchors.
Bald bestanden klare Grenzen: Der Männerchor, die Vereine und die GGW waren bürgerlich, die Kirchgemeinde war rot. In der Kirche trat der Männerchor Wipkingen deshalb fast nie auf. Einzig bei der Kircheneinweihung 1909 sang der Verein zu Ehren des Neubaus.

Gesellschaft und Politik

Der Männerchor Wipkingen blieb eine Institution. In der Zwischenkriegszeit gab es eine immense Zahl von Veranstaltungen, und meist erzielte der Verein an den Konzerten einen Gewinn, mit dem er eine wohltätige Organisation unterstützte. Ab 1932 fanden die Proben im kleinen Saal des neuen Kirchgemeindehauses an der Rosengartenstrasse statt. Im Juli 1935 trat der Männerchor Wipkingen am 25. Eidgenössischen Sängerfest Basel auf. Beim Stundenchor – jeder Chor hatte eine Stunde Zeit, um ein unbekanntes Lied einzuüben – gewann der Männerchor Lorbeer ersten Ranges. Ab 1944 übte der Männerchor im umgebauten Sonnenberg. Während des Zweiten Weltkriegs hielten sich die Aktivitäten in Grenzen, da viele Sänger im Aktivdienst standen. Es gab Konzerte, Abendunterhaltungen und Preiskegeln, aber kaum Auftritte an grösseren Sängerfesten. Es folgte danach eine Periode von intensivem und recht erfolgreichem Vereinsleben mit vielen Auftritten in der Gemeinde und auswärts.

Schleichendes Ende

Ab den 1970er Jahre hatte der Männerchor zusehends Schwierigkeiten, neue Mitglieder zu finden. Es gab mehr und andere Unterhaltungen, vor allem startete man eine Laufbahn nicht mehr via Männerchor oder Turnverein. Das Fest zum 150-jährigen Vereinsjubiläum 1978 war bescheiden, aber feierlich. Jakob Frei publizierte eine Vereinschronik. Das Ende des Männerchors war aber absehbar, trotz des grossen Einsatzes des Vorstandes und der Mitglieder. Die Jubiläumsschrift endet mit einem Gedicht von Heinrich Kleinert jun., gewidmet den Sängern des Männerchors Wipkingen:

«Wohl gibt es heut’ viel Zeitvertreib
Für unsere Seelen und den Leib,
Verwöhnt sind Augen, Herz und Ohr,
Dir bleib ich treu, mein Männerchor.»

Das Ende des Männerchors kam schleichend Mitte der 1980er Jahre. Ältere Mitglieder starben, junge rückten nicht nach. Konzerte blieben aus, und unversehens war das Ende des über 150-jährigen Männerchors nicht mehr aufzuhalten.

«O Harmonie der Töne
weck’ alles Edle, Schöne!
Entflamm’ Begeisterung
In Herzen alt und jung.»
(Wahlspruch des Männerchors Wipkingen, 1828 bis ca. 1985)

Quelle: Männerchor Zürich Wipkingen – Chronik der Jahre 1828 – 1978, verfasst 1978 von Jakob Frei.

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