Das Leben ins Zentrum geholt

Fast ist die Erinnerung daran verblasst, als der Röschibachplatz nicht viel mehr war, als der kürzeste Weg zur Migros-Filiale. Dabei ist erst ein Jahr vergangen seit der Einweihung der neuen «Piazza». Eine Pulsfühlung.

Der neue Dorfkern von Wipkingen wird vielseitig genutzt.
Viermal im Jahr findet der Flohmarkt hier statt
Das ganze "Dorf" ist zusammengekommen um gemeinsam das EM Finale zu schauen.
Die Erinnerung an den früheren Röschibachplatz ist fast verblasst.
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Zugegeben, etwas überrascht war man schon, als nach einer gefühlten Ewigkeit – der Winter verzögerte erst die Bauarbeiten, dann musste sich der Netstaler Mergel Belag richtig absetzen – die Blachen entfernt wurden und der neue Röschibachplatz zum Vorschein kam. Wer die Entwicklungen nicht verfolgt hatte, hatte sich auf einen begradigten Platz gefreut, auf dem sich herrlich abendelang bei einem Glas Weisswein oder einer Schorle Petanque spielen lassen würde. Bei der Neigung der Kiespiste wäre dies nun ein ziemlich abgekartetes Spiel. Auch sonst machte die neue «Piazza» anfänglich einen eher unscheinbaren Eindruck. Doch kaum wurden die Tage länger und wärmer, kam Leben ins Zentrum: Wer im anliegenden «Nordbrüggli» keinen Tisch mehr fand, teilte sich ein Bänkli mit ein paar Jugendlichen, die ihr Bier beim Kiosk Röschibach gekauft hatten. Bald reihten sich «Fixi»-Bikes an Kinderwagen, und die Abenddämmerung legte sich wie ein Sommerferien-Filter über den ganzen Platz. Auch Gaudenz Weber, Radiojournalist und langjähriger Quartierbewohner, ist ab und zu auf dem Röschibachplatz anzutreffen. Er erinnert sich noch an Zeiten, als eine dichte Hecke den kleinen Fleck umgab, «und sich wirklich gar niemand dort aufhielt. Ich sage immer: Ich wohne in einem Dorf, das heisst Wipkingen. Und jetzt hat es endlich wieder einen Dorfkern bekommen». Auch Anife Dudus von der Cafe-Bar Röschibach ist zufrieden: «Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus und aller Nationalitäten treffen sich hier». Besonders angetan hat es ihr der Flohmarkt, wenn es nach ihr ginge, könnte der auch jeden Monat stattfinden, «für die Leute, die nicht so viel Geld haben». Es herrscht eine friedliche Stimmung, «nur die runden Bänkli sind etwas mühsam, wenn man sich in einer Gruppe unterhalten will. Irgendwer dreht irgendwem immer den Rücken zu», moniert ein junger Mann.

Nicht nur Begeisterungsstürme

So eine Neugestaltung stösst selten bei allen auf Gegenliebe. Eine Schönheit sei dieser Platz ja nun nicht gerade, findet die Filialleiterin des Madal Bal. Täglich wischt sie diesen Sommer den Staub, der vom Kiesplatz her hinübergetragen wird, von ihren Waren. Eine Rasenfläche wäre doch praktischer gewesen, vor allem bei der Hitze in diesem Jahr. «Tagsüber kann man sich hier doch kaum aufhalten ohne Schatten. Und wer will schon Staubbrötchen essen», ärgert sie sich. Der fehlende Schatten hat mit den Bäumen zu tun, respektive damit, dass die neuen Bäume noch sehr klein sind. Und wieso, das fragen sich viele, hat man die alten denn nicht stehen lassen? Einerseits, so Stefan Hackh von Grün Stadt Zürich, waren die Robinien in einem gesundheitlich schlechten Zustand und hätten ohnehin nicht mehr lang gelebt. Andererseits sei es ein grosser Wunsch der Bevölkerung gewesen, dass der Platz durchlässiger werde und mehr Raum für Veranstaltungen zuliesse. Um dies zu erreichen, mussten die Bäume im Zentrum gefällt werden. Glücklicherweise wachsen Pflanzen im Normalfall nach. Die neu gepflanzten japanischen Schurbäume sollen eine besonders grosse Baumkrone entwickeln und den vermissten Schatten schon bald wiederherstellen. Schwierigkeiten scheint die Verkehrsführung zu machen: Die Damen aus der Rotbuch-Apotheke an der Röschibachstrasse beobachten täglich, wie Mütter ihren Kindern zurufen, nicht auf die Strasse zu rennen. Dadurch, dass der Platz keine gut sichtbare Abgrenzung hat, sei es schwierig zu sehen, wo er aufhört und die Strasse anfängt. Dadurch komme es manchmal zu brenzligen Situationen zwischen Fussgängern und Autofahrenden. Nicht sehr glücklich über die Neugestaltung ist der Wirt des «Belmondo». Nicht der Platz oder die Bäume, die Einbahnstrasse sei das Problem: Die motorisierte «Laufkundschaft», die auf der Durchfahrt noch schnell auf einen Kaffee Halt machte, um dann weiter Richtung Schaffhauserplatz zu fahren, nähme heute eine komplett andere Route. «Unser Umsatz ist dadurch im letzten Jahr um 30 Prozent gesunken», beklagt sich der Beizer.

Platz darf auch mal nur Platz sein

Zum Glück kennt das Belmondo auch treue Stammgäste. An einem nicht so sonnigen Tag sitzen Barbara Lander, Doris Beti und Daniel Weber im «Schärmen» und haben schon fast vergessen, wie es vorher hier war. Ein schöner Treffpunkt sei es geworden, da sind sich die drei einig. «Das mit dem Verkehr muss sich noch etwas einpendeln, da gibt es immer noch Autofahrende, die die Einbahnstrasse ignorieren», meint Daniel. Gefährlich seien auch manche Velofahrenden, die in hohem Tempo von der Nordstrasse her am Madal Bal vorbei um die Ecke kämen, direkt an den uneinsehbaren Restaurant- und Ladeneingängen vorbei, da habe es schon einige Beinahe-Unfälle gegeben. Sie fände den Platz und die Stimmung gut, auch der Frischwarenmarkt passe ins Quartier, findet Barbara, die früher im Kreis 4 zuhause war. Allerdings müsse auch nicht immer etwas los sein. Der Platz könne auch mal nur Platz sein, ohne ständig belebt zu werden.

Weniger Rekurse dank Mitwirkungsverfahren

So wie die Erinnerung an den alten Röschibachplatz langsam verblasst, erinnern sich die meisten auch nicht daran, wie es überhaupt zur Neugestaltung kam. Das städtische Tiefbauamt hatte, nach hartnäckigem Nachfragen von Seiten des Quartiervereins, die Bevölkerung und Interessensgruppen aufgerufen, sich an einem Mitwirkungsverfahren zu beteiligen. Mehr als hundert Personen folgten dem Ruf, und eine Mehrheit setzte sich unter anderem für die Verbreiterung des Trottoirs zu Gunsten der Nordbrüggli-Terrasse ein. «Bei einer Neugestaltung einer öffentlichen Begegnungszone ist es eben nicht egal, was rund herum geschieht. Zu einem richtigen Dorfkern gehört nun mal auch ein schönes Boulevard-Café», findet der Präsident des Quartiervereins Beni Weder. «Was sich in jedem Fall gezeigt hat, ist, dass es ratsam ist, die betroffene Bevölkerung in die Entwicklung eines Bauprojekts von Anfang an miteinzubeziehen», ist Weder überzeugt. «Wir haben in Wipkingen noch andere Objekte wie die Wohnsiedlung an der Tièchestrasse oder das Speichareal, wo sich eine Zusammenarbeit der Stadt, Bauherren und Anwohner positiv ausgewirkt hat. Vielleicht dauert es etwas länger, bis man einen Kompromiss gefunden hat und loslegen kann, aber dafür kommt es danach kaum mehr zu Rekursen, weil sich alle mit ihren Bedürfnissen zumindest angehört fühlen». Weder hofft, dass die Stadt auch in Zukunft vermehrt auf das Mitwirkungsverfahren setzt.

Das Leben ins Quartier geholt

In Marcel Ferris Brust schlagen zwei Herzen: Einerseits ist er Mitbegründer des «Nordbrüggli», andererseits selbst Anwohner des Quartiers. Eigentlich hätte er sich einen komplett verkehrsfreien Platz gewünscht, im Stile des Röntgenplatzes. Das wurde von der Stadt aus «überregionalen Verkehrsinteressen» allerdings nicht bewilligt. Das Resultat sei nun zwar ein Kompromiss, aber er sei trotzdem sehr glücklich mit dem neuen Röschibachplatz: «Jetzt spielt sich das Leben hier ab. Der Ort wirkt wie ein Magnet, hier können sich die Leute treffen und verweilen, auch ohne zu konsumieren. Sie können im Quartier bleiben und müssen nicht extra in den Kreis 5 runter, das finde ich genial». Angesprochen auf den möglicherweise gestiegenen Lärmpegel, weist Ferri darauf hin, dass es ganz klar Lärmemissionen gäbe, speziell an warmen Sommerabenden, wenn die Leute länger draussen bleiben. Das sei in der Stadt ein verbreitetes Thema. Doch die direkt betroffene Nachbarschaft sei sehr tolerant: «Das <Nordbrüggli> hat bis heute kaum je eine Beschwerde erhalten». Natürlich freut ihn die Erweiterung seines Gartens auf das Trottoir. Den Vorwurf der Vetterliwirtschaft lässt er nicht gelten: Alle Anwohner seien eingeladen gewesen, sich an der Gestaltung des Platzes zu beteiligen. Als Unternehmer und Privatperson bemühte sich Marcel damals aktiv darum, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. In der sogenannten «Spurgruppe», welche das finale Projekt gemeinsam mit Rolf Kaspar und Christine Kerlen vom städtischen Tiefbauamt entwickelte, seien auch Vertreter der bürgerlichen Parteien anwesend gewesen. Und für die Boulevard-Tische habe er wie jeder andere Gastronomiebetrieb auf dem offiziellen Amtsweg eine Bewilligung einholen müssen.

Pragmatismus hilft

Auch Kurt Gammeter, Besitzer und Betreiber der «Goldstück-Textilpflege», begab sich damals zum Workshop ins reformierte Kirchgemeindezentrum. Ihm war das Einbahnregime von Anfang an ein Dorn im Auge. Es kommt ihm heute noch so vor, als wäre von Beginn an klar gewesen, dass der Verkehr auf dem Platz zurückgedrängt werden sollte. Dass man nun nicht mehr zur Nordstrasse hochfahren könne, erschwere vielen Gewerbetreibenden die Zustellungen im Quartier. Ausserdem, so Gammeter, sei für Automobilisten von ausserhalb zu wenig früh gekennzeichnet, dass es beim Röschibachplatz nicht mehr weitergeht, was die motorisierten Personen zu seltsamen Aktionen wie dem Benutzen des Zeunersteig verleite. Letztendlich sieht der alteingesessene Wipkinger es aber pragmatisch: Ob der Platz schön sei, liege im Auge des Betrachters. Immerhin sei er gut besucht und das Quartier dank ihm etwas zusammengerückt. In zwei, drei Jahren könne sich ohnehin niemand mehr daran erinnern, wie es vorher einmal war. Aber wenn man den Autofahrern schon die Strassen wegnehme, solle man doch wenigstens die Züge belassen – da werden ihm wohl nicht nur die Velofahrer im Quartier zustimmen. Grundsätzlich ist man in Wipkingen zufrieden mit dem neuen Dorfkern, schnell und natürlich hat er sich zum Treffpunkt für die verschiedensten Bevölkerungsgruppen entwickelt. Der neu etablierte Frischwarenmarkt stösst auf breites Wohlwollen, auch andere Anlässe sind beliebt bei den Anwohnern. Jetzt kommt die kalte Jahreszeit, die Parks und Plätzen für gewöhnlich nicht so gut zu Gesicht steht. Aber: Nachts sind auch die schönsten Katzen grau. Der neue Röschibachplatz wird sich trotzdem bald gut eingefügt haben. Über die Einbahn und darüber, was Verkehrsberuhigung bedeutet, wird auch in Zukunft immer wieder diskutiert werden. Und das ist gut so. Denn im Gespräch finden sich die besten Lösungen.

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