Das Leben vor Corona – eine Momentaufnahme

Die Zeitung, die Sie in der Hand halten, ist überholt. In nur wenigen Tagen Woche hat sich das ganze Leben verändert. Nun erinnern die Seiten daran, was die Wipkinger Akteure und Institutionen beschäftigte, bevor Corona die Kontrolle übernahm.

Während das gesellschaftliche Leben runtergefahren wird, dreht die Natur auf.

Am Vortag des Redaktionsschlusses dieser Zeitung wird im Tessin der Notstand ausgerufen, wenig später in ganz Italien. Die Kampagne des Bundesamts für Gesundheit (BAG) «So schützen wir uns» läuft bereits seit elf Tagen. Die Playoffs der Schweizer Eishockey-Meisterschaft sind abgesagt. Am selben Tag wird Ischgl zur Gefahrenzone erklärt, und Dänemark schliesst die öffentlichen Schulen. Donald Trump verhängt ein Einreisestopp, die Börse tauchte ab und das BAG tweetet, dass von einem Gesamtschweizerischen Notstand nicht die Rede sei. Es ist jetzt der 12. März. Die WHO erklärt Covid-19 offiziell zur Pandemie. Weitere Veranstaltungen werden abgesagt, erst die grossen Sportereignisse, dann die Generalversammlungen, dann die kleineren Theater und Konzerte. Die ersten Inserate werden storniert. Homeoffice, Digitalstudium bei der ETH, 800 bestätigte Fälle in der Schweiz, zwei Tote im Tessin.
Hände waschen.
Hände waschen.
Hände waschen.
Der New Yorker Broadway muss die Segel streichen, immer mehr Kantone bestätigen Ansteckungen mit dem Coronavirus. Italien schliesst die Kirchen, Altersheime und Spitäler in der Schweiz erlassen Besuchsverbote. Es ist immer noch der 12. März.
Ein Land nach dem anderen erklärt den Notstand und macht die Grenzen dicht. Gesundheitsminister Alain Berset reist ins Tessin. Kurz darauf verschärft der Bundesrat die Massnahmen im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus drastisch: Veranstaltungen ab 100 Personen sind verboten, Restaurants und Bars dürfen nur noch bis 50 Leute aufnehmen, Schulen werden geschlossen. Die Lage sei besonders, aber noch nicht aussergewöhnlich. In China stagniert die Zahl der Neuansteckungen. Hände waschen. Es ist der 13. März. Alle Kantone sind nun vom Coronavirus betroffen. In der Hotellerie und Gastronomie hat rund ein Drittel der Betriebe Kurzarbeit beantragt. Es ist jetzt Sonntag, der 15. März, und Swiss macht sich Sorgen um ein bevorstehendes Grounding, während der Vatikan die öffentliche Osterfeier absagt. Ganz Spanien muss zu Hause bleiben. 1,5 Millionen Schweizerinnen und Schweizer schauen an diesem Abend die Tagesschau auf SRF. Normalerweise sind es rund 600000. Die National- und Ständeräte beschliessen, nun doch die Frühlingssession abzubrechen. Nach dem Zürcher Kantonsrat sagt auch der Gemeinderat seine wöchentlichen Sitzungen ab. Am Montag, 16. März, berät sich der Bundesrat mit den Kantonsregierungen und verkündet um 17 Uhr: Ab Mitternacht gilt schweizweit der Notstand. Bis zum 19. April bleiben Restaurants geschlossen, Zoos, Museen, Kinos, Bars und Geschäfte, ausser Lebensmittelläden, Apotheken, Arztpraxen, Kiosk, Tankstellen. Der Layouter dieser Zeitung muss im Ausland bleiben. Dank Internet ist die Produktion nicht gefährdet. Die dringende Aufforderung des BAG an die Bevölkerung: zu Hause bleiben, Distanz halten, Hände waschen. Aber vor allem: zu Hause bleiben. Die Corona-Krise ist nun offiziell eine «ausserordentliche Lage». Wenn die Bevölkerung die beschlossenen Massnahmen umsetze, sei keine totaler Shutdown nötig, so Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. Es ist immer noch der 16. März. Die Hamsterkäufe weiten sich neu auch auf das Gemüse aus. Am See und an der Limmat feiern die Leute den Frühling. Der Praktikant dieser Zeitung, Béla Brenn, arbeitet von zu Hause. Das Zürcher Sechseläuten ist abgesagt.
Nationalrat Roger Köppel erntet einen Shitstorm aus der eigenen Partei für einen unsolidarischen Tweet, die Schweiz stellt landesweit die Organspenden ein, in Italien werden Balkonkonzerte gegeben und in Spanien für die Arbeiterinnen und Arbeiter geklatscht, die in dieser Krise weiterhin an vorderster Front im Einsatz sind: Krankenpfleger, Ärztinnen, Verkaufspersonal, Apotheker, Mitarbeiterinnen des öffentlichen Dienstes. Am 17. März beginnt die grösste Mobilmachung seit dem 2. Weltkrieg: Die Armee stellt bis Ende Juni 8000 Männer und Frauen zur Verfügung. Inserate werden storniert. Sechs Tage nach Redaktionsschluss meldet der Kanton Zürich 424 Corona-Infizierte, und die eidgenössische Volksabstimmung vom 17. Mai wird offiziell abgesagt. In Norditalien steht das Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps, im Tessin steigt die Zahl der Opfer auf 14 Personen. Die SBB streicht mehrere Verbindungen, die Landeskirchen rufen dazu auf, jeweils am Donnerstag Kerzen auf den Fenstersimsen zu entzünden. Unzählige Solidaritätsgruppen haben sich gegründet. Es ist jetzt der 19. März. Ungewöhnlich häufiges Zulächeln beim Kreuzen auf dem Gehsteig. Mitarbeitende der Grundversorgung dürfen in der Stadt Zürich gratis parkieren, die Swiss reduziert ihren Betrieb auf ein Langstrecken- und fünf Kurzstreckenflugzeuge. Coop und Migros lassen nur noch eine Person pro zehn Quadratmeter in ihre Läden. Das BAG meldet am 19. März 3888 Fälle von Coronavirus Erkrankten in der Schweiz. Und die Lage im Tessin verschärft sich zusehends. Der Zürcher Regierungsrat will 15 Millionen Franken für Selbstständigerwerbende bereitstellen. Zeitungen bieten Gratisabos an. Freitag, 20. März. Die Republik publiziert in einem Artikel, dass die vom BAG publizierten Fallzahlen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht stimmen. Tag der Mettage, der Inhalt der Zeitung muss stehen. Innerhalb von nur einer Woche, die es braucht, um die Texte für diese Zeitung zu sammeln, redigieren, korrigieren, layouten und absegnen zu lassen, haben sich die Ereignisse überschlagen. Täglich, nein stündlich veränderte sich die Situation, gab es neue Weisungen. Alles viel zu schnell, und keine Zeit, darauf zu reagieren. Das Resultat: So gut wie kein Bezug zu Corona, abgesehen von zwei redaktionellen Beiträgen. Und auch diese sind bereits veraltet. Das mag ärgerlich sein. Vielleicht ist es aber auch einfach gut so. Denn die Zeitung ist der auf Papier gedruckte Moment, an dem wir uns befanden, bevor das Virus die Kontrolle über unser Leben übernahm. Auf den Seiten der Parteien, Institutionen und Organisationen ist festgehalten, was uns beschäftigte, bevor uns nur noch Corona beschäftigte. Die Themen sind in den Hintergrund gerückt, aber nicht vergessen. An manchem wird man nahtlos anknüpfen können, anderes wird ganz neu gedacht werden müssen. Eine dramatische Zeit, und auch eine Chance.

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