Das Nordliecht – der hellste Punkt am Horizont

Die beste Küche aller Anlaufstellen für psychisch beeinträchtigte Menschen in der Stadt findet sich in Wipkingen, an der Nordstrasse 198.

Für manche ist das Nordliecht eine Stube.
Die Tür des Nordliechts steht allen offen.
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Vor der Türe des Nordliechts wird man unter Umständen von Zigarren- und Zigarettenrauchern begrüsst. Sie sitzen vor der bunt bemalten Tür der Anlaufstelle für psychisch beeinträchtigte Menschen an der Nordstrasse und frönen ihrer Sucht. Dies sei das AHV-Bänkli, erzählen sie, teils schon seit über 20 Jahren frequentiere man diese Anlaufstelle. Drinnen liesse sich sicher jemand finden, der zu einem Interview bereit sei, meinen sie.
Der helle, in freundlichen Farbtönen gehaltene Raum erinnert an ein Wohnzimmer und wird von vielen Besucherinnen und Besuchern auch gerne als «zweite Stube» bezeichnet. Bequem sitzen hier auf zwei grosse Tische verteilt Leute zusammen. Jeder Einzelne von ihnen hat ein psychisches Problem und/oder ist von der IV abhängig. Ob denn jemand zu einem Gespräch bereit sei? Sofort fällt Michels Name. «Der Weise» wird er genannt. Oder auch «Schnurri». Er selbst bezeichnet sich als «Der Hofnarr». «Du weisst ja, was das Nordlicht ist», sagt er. Den hellen Punkt der Nordstrasse gibt es seit 25 Jahren. Gedacht ist er als Treffpunkt für IV-Bezüger, die viel zu kämpfen haben mit ihrer Krankheit und Gewaltproblemen, aber auch mit Vereinsamung und Angst. Hier können sie sich austauschen und dem grauen Elend des Alltags entfliehen. «Das Essen ist sehr gut, und es ist schön, nicht alleine essen zu müssen», sagt «der Weise» am Tisch. Er selbst ist seit sieben Jahren regelmässiger Gast im Nordliecht. Ringsum schauen die Leute gespannt, aber freundlich interessiert. «Die gute Küche ist einer der Gründe, warum wir hier sind. Ein anderer sind die Leute, die fröhliche und angenehme Stimmung. Man hat einfach jemanden zum Reden. Es gibt viele soziale Anlaufstellen in Zürich, doch keine ist so wie das Nordliecht», meint Michel. «Man findet sein Lachen wieder», hört man. Fühlt man sich besser, wenn man den Ort verlässt? Michel zuckt mit den Achseln. «Weder besser, noch schlechter, denke ich», antwortet er. «Es wirkt – stabilisierend. Hand hoch, wer das auch denkt». Fast alle Hände im Raum heben sich. Das Nordliecht wirkt stabilisierend – in einer Zeit der Unverstandenheit und der Not.

Probleme mit Gewalt

Ronald ist zum ersten Mal hier. Er fühlt sich, nachdem er anderthalb Jahre einsam vor dem Fernseher verbracht hat, nach seinem ersten Besuch im Nordliecht, in eigenen Worten, «erlöst». Er stösst hier auf offene Ohren. Ronald wurde in der Klinik von einem Psychiatriepfleger geschlagen, er erzählt es und Ria ruft ohne zu zögern: «Ja, das glaube ich dir sofort!» Sie selbst hat vor bald 30 Jahren miterlebt, wie ein Pfleger einen Patienten durch den Wachsaal des Burghölzlis geprügelt hat. Nachdem sie ihn denunziert hatte, war sie es gewesen, die den Rüffel gekriegt hatte. Daher zweifelt sie in keiner Hinsicht an Ronalds Geschichte. Niemand sonst hat ihm bisher geglaubt. Aufgrund ihrer Arbeit in der Psychiatrie – sie war eine der ersten Frauen, die auf der Männer-Akut-Abteilung des Burghölzlis die Nachtwache übernommen hatte – ist Ria Frick bestens geschult im Deeskalationsverhalten und daher gegen einiges gewappnet. Dank der positiven Energie und des Friedens, die im Nordliecht vorherrschen, kommt es hier äusserst selten zu Gewaltsituationen. Ria, man duzt sich hier, kann nur von zwei oder drei solchen Situationen in ihrer 20-jährigen Zeit als Leiterin der Anlaufstelle berichten. In Fällen von Gewalt muss sie die Polizei rufen. Als ihr mal von einem wütenden Psychotiker eine Tasse nachgeworfen wurde, es war an einem Sonntag, fand sie sich jedoch in einer brenzligen Situation wieder. Am Telefon sagte ihr die Polizei, dass sie zurzeit nicht genügend Mann hätten, um auszurücken. Gottseidank merkte der Tassenwerfer, dass sie mit der Polizei sprach, und ergriff die Flucht.

«Die Gesellschaft ist nicht frei genug»

Neben Ria sind zwei weitere Fachpersonen im Nordliecht angestellt: Andrea Pelloli, ebenfalls Psychiatriefachfrau, und Skender Ganievski, Sozialpädagoge. Alle drei haben langjährige Erfahrung in der Psychiatrie. Das Konzept der Eigenständigkeit und der Selbstverantwortung erlaubt es Ria, mit einer Offenheit an die Besucher heranzugehen, wie sie in der Psychiatrie nicht möglich wäre. Hier wird über alles Mögliche gesprochen: Stimmen, Ängste und Kränkungen, Schwierigkeiten und Peinlichkeiten, aber auch kleine Erfolgserlebnisse und Erkenntnisse. Durch ihren täglichen Umgang mit diesen Dingen ist Ria als Mensch «weicher, offener und zugänglicher» geworden, aber auch weniger ängstlich und viel gelassener. «Gesundheit ist eine Illusion», weiss sie jetzt. «Die Gesellschaft ist nicht frei. Zwang, Widerstände und Elend führen zu einer IV-Rente. Die IV-Rente wiederum führt in den meisten Fällen zu einem Kontrollverlust.» Im Nordliecht sprechen alle dieselbe Sprache und es herrscht kein Druck. Die Besucherinnen und Besucher können voneinander lernen und absolut offen und unvoreingenommen miteinander umgehen. «Zufriedenheit korreliert längst nicht immer mit der tatsächlichen Lebenssituation», erklärt Ria Frick schlicht. Und ein Blick in ihre Augen genügt, um zu sehen, dass sie es ernst meint.
Übrigens wird gemunkelt, im Nordliecht werde geklaut. Tatsächlich gab es im 25-jährigen Bestehen nur vier Fälle von Diebstahl. Wer Neider hat, der hat etwas!

Seit Anfang Jahr ist die promentesana Trägerin des Nordliechts, das früher ein eigenständiger Verein war. Die promentesana sorgt mit ihrer «Recovery-Bewegung» dafür, dass Betroffene und Angehörige Wege aus der Krankheit und mit der Krankheit finden können. Weitere Informationen auf: promentesana.ch. Die Öffnungszeiten des Nordliechts sind Dienstag und Donnerstag 14 bis 22.30 Uhr mit Abendessen um 19 Uhr und freitags von 14 bis 20 Uhr mit Abendessen um 18 Uhr. Am 1., 3. und 4. Sonntag im Monat gibt es zwischen 10.30 und 16 Uhr Brunch im Nordliecht.

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