«Das Provisorium soll aus dem Stadtbilde verschwinden»

Die Schindelhäuser in Wipkingen entstanden vor hundert Jahren als Zwischenlösung. Sie zeigen, dass es nichts Dauerhafteres gibt als ein Provisorium der Politik.

Von der «Wohnsiedlung Nordstrasse» zu den heutigen Schindelhäusern: eine lauschige Siedlung inmitten Wipkingens.

«Im vierten Kriegsjahr herrscht Wohnungsmangel und Teuerung», steht in Stein gemeisselt am Brunnen vor den Häusern. Viele Wipkinger Männer standen im Aktivdienst an der Grenze. Obdachlose fanden kein Heim, viele Betriebe waren bankrott und Familien konnten die Mieten nicht mehr bezahlen. Es gab Arbeitsbeschaffungsprogramme, eines davon führte zu den Schindelhäusern. Bei einer Volksabstimmung vom 21. April 1918 bewilligten die Stadtzürcher mit 82 Prozent Ja-Stimmen einen Baukredit für die «Wohnsiedlung Nordstrasse». 126 Wohnungen waren geplant und wurden in nur sechs Monaten erbaut. Die Fachwerkbauweise war schlicht und funktional. Bereits im Oktober 1918 wurden die ersten Wohnungen bezogen. Im Herbst 1918 wütete die Spanische Grippe, im November 1918 brach der Generalstreik aus. Die Stadtregierung wollte die vielen Arbeitslosen irgendwie beschäftigen. Der Bau einer Siedlung auf Kredit war eine pragmatische Lösung. Der Blick zurück ist oft romantisch verklärt. Solche Siedlungen beherbergten damals Menschen, die man sonst nirgends versorgen konnte. In der Siedlung wohnten Arbeiter, verarmte Familien und arme Alte.

Die «Zürcher Wochen-Chronik» schrieb 1918: «Die Bauten haben als Provisorium zu gelten. Sie sollen früher oder später aus dem Stadtbilde verschwinden». Die Qualität war auch bescheiden. Der Stadtrat bekräftigte die Absicht, die Zwischenlösungen bald wieder abzubrechen.

Schnell gebaut…

Gleich nach der Abstimmung begann der Bau. Die «Wohnsiedlung Nordstrasse», wie sie ursprünglich hiess, umfasst das Geviert Nordstrasse 289-293, 297-303; Dorfstrasse 24, 30-32; Kleinertstrasse 3, 6; Trottenstrasse 6-16, 11, 15-21 und Waidstrasse 18, 20. Die Stadt als Bauherrin erstellte die Siedlung nach Plänen der Architekten Pfleghard & Haefeli. Es waren insgesamt 69 Dreizimmer- und 27 Zweizimmerwohnungen. 1919 kamen nochmals 4 Häuser an der Dorfstrasse dazu.

Die Siedlung ist eine Blockrandbebauung in Riegelkonstruktion. Es gab drei Grundrisstypen. Die Häuser waren aus Kostengründen dreigeschossig mit sehr schmalem Treppenhaus. Jede Wohnung erhielt ein Estrich- und Kellerabteil. Die Dächer deckte man mit Biberschwanz- und Doppelfalzziegeln. Die Architekten legten die einzelnen Gebäude so an, dass Freiflächen und Durchblicke entstanden. An den Sonnenseiten legten sie Gemüsegärten an. Auf Hygiene legten die Architekten grossen Wert. Jede Wohnung war an die Kanalisation angeschlossen und hatte eine Toilette und fliessendes Wasser. Sonst war der Komfort bescheiden, für die Wäsche mussten Zuber in der gemeinsamen gemeinsamen Waschküche genügen. Zum Heizen gab es lediglich einen tragbaren Kachelofen pro Wohnung.

Die Musterhäuser an der Wibichstrasse 5-11 waren Vorläufer der Schindelhäuser.

Die Musterhäuser an der Wibichstrasse 5-11 waren Vorläufer der Schindelhäuser.

 

…und schnell saniert

Gutes, trockenes Bauholz war nach dem Krieg kaum erhältlich. Weil die Tragstruktur nachträglich austrocknete, erschienen Risse und Verputzschäden in der Fassade und in den Decken. Ursprünglich waren die Häuser weiss verputzt. Sie erhielten in der Sanierung 1922 Eternit-Schindeln, was der Siedlung den Namen Schindelhäuser eintrug. Die Häuser der zweiten Bauetappe wurden in Massivbauweise erstellt. Weitere 24 Wohnungen an der Dorfstrasse fanden in einer Volksabstimmung am 13. Juli 1919 Zustimmung. Bereits im März 1920 wurden sie bezogen. Die «Pflanzplätz» waren auch im Zweiten Weltkrieg wichtig, sie waren Teil des Wahlenplans zur Selbstversorgung der Schweiz. 1948 kam man vom Grundsatz der Eigenversorgung weg und Pflanzgärten wurden aufgehoben. «Zusammen mit dem inzwischen zu machtvoller Grösse gewachsenen Baumbestand erhielt der Aussenraum parkähnliche Gestalt», beschrieb die Liegenschaftenverwaltung der Stadt Zürich die Siedlung.

Städtische Siedlung Trottenstrasse, «Schindelhäuser»

Die Schindelhäuser um 1938. (Foto: BAZ)

 

In den 1960er-Jahren kam der Mieterwechsel. Die Bewohner aus der Zeit des Ersten Weltkriegs waren verstorben, es folgte die Mietergeneration der Mütter, Rentner und Studenten. Die Siedlung wuchs auf insgesamt 150 Wohnungen an mit etwa 300 Mieterinnen und Mietern. Der ursprüngliche Zweck der Siedung hatte sich überlebt. Die Stadt präsentierte 1976 ein Konzept für einen Neubau. Die geplante Blocksiedlung namens «Trottenhof» kam bei den Mieterinnen und Mieter nicht gut an. Sie wollten in den Schindelhäusern bleiben. Die Siedlung war zwar etwas «démodé», aber gemütlich und vor allem günstig. Der Quartierverein bekämpfte den «Trottenhof». Die Kleinertstrasse wäre verschwunden. Die meisten Mieter hätten sich die neuen Wohnungen nicht leisten können, lauteten die Argumente. Das Projekt war bald vom Tisch.

1982 planten der damalige Finanzvorstand Willy Küng und Bauvorstand Hugo Fahrner einen Teilabbruch der Schindelhäuser. Etwa die Hälfte der Häuser wäre renoviert worden, die andere abgebrochen. Die Baugenossenschaft der Strassenbahner unterschrieb einen Baurechtsvertrag für 27,5 Millionen Franken. Ein neu gegründeter «Verein Schindelhäuser» reichte eine Petition zur Sanierung der Siedlung ein. Der Verein Schindelhäuser, der Heimatschutz und der Quartierverein beharrten auf sanfter Renovation der Siedlung. Die Genossenschaft der Strassenbahner versteifte sich nicht auf ihr Projekt, da sie aus der Siedlung kein Politikum machen wollten. Der Gemeinderat entschied 1984 auf sanfte Renovation der gesamten Schindelhäuser-Siedlung. 1986 kam die Siedlung unter kommunalen Schutz und 1988 unter Denkmalschutz als Beispiel für «städtisch geförderten sozialen Wohnungsbau».

Zweite Renovation

Eine weitere Renovation, die zum heutigen Erscheinungsbild der Schindelhäuser führte, fand 2009 bis 2012 statt. «Die Instandsetzung der Schindelhäuser sichert den Erhalt des Quartierbildes und ermöglicht preisgünstigen Wohnraum in Wipkingen», beschrieb die Liegenschaftenverwaltung die Sanierung. Eine unterirdische Pellets-Heizzentrale ersetzte die freistehenden Öl- und Holzöfen in den Wohnungen. Hundert Jahre nach dem Provisorium in Notzeiten ist «die Förderung von gemeinnützigem und preisgünstigem Wohnungsbau ein konstitutives Element der Stadt Zürich», schrieb das Amt für Hochbauten zum Abschluss der Renovation.

Die Musterhäuser

Die «Schindelhäuser» sind stadtbekannt, ihre Vorläufer nicht. Während der Spanischen Grippe 1918 begann der Stadtrat mit der Planung einer «Musterhausgruppe von Kleinwohnhäusern», heute würde man dies «Tiny Houses» nennen. Das erste Musterhäuser-Projekt kam an der Wibichstrasse 5-11 zu stehen als Pilotprojekt für die städtischen Wohnsiedlungen. Architekt Henry Eberlé konzipierte die vierteilige Einfamilienhausreihe als einheitlich geschlossenen Kubus im Heimatstil. Die Grundrisse waren so angelegt, dass man sie als Muster für grossflächige Serienbauten verwenden konnte. 1989 setzte die Stadt die Häusergruppe unter Schutz und renovierte sie.

Der «Rationenbrunnen»

Hans Gisler gestaltete den Brunnen und nannte ihn Rationenbrunnen. Die öffentlichen Brunnen waren damals auch Trinkwasserquellen für die Anwohner, es gab längst nicht in allen Wohnungen fliessendes Wasser. Bäder und Toiletten gab es in den Neubauten, sonst gab es Abtritte oder man leerte den Nachthafen in die Gosse. Die Brunnen dienten auch zum Wäschewaschen. Hier gab es öfters Streitereien mit Furhaltern, die ihre Pferde tränkten. Ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, 1919, erstellte die Gemeinde den Brunnen aus Granit zum Gedenken an die Not. Er war Teil eines Pärkleins bei den Schindelhäusern.

Eines der versteckten Wahrzeichen Wipkingens: Der Notbrunnen bei den Schindelhäusern zeigt die Preissteigerungen in der Krisenzeit. (Fotos: Kurt Gammeter)

Eines der versteckten Wahrzeichen Wipkingens: Der Notbrunnen bei den Schindelhäusern zeigt die Preissteigerungen in der Krisenzeit. (Fotos: Kurt Gammeter)

 

Die Brunnenanlage stammt vom Bildhauer Hans Gisler (1889–1969). Der Trog steht zentriert auf einem Steinfundament. Die quadratische Säule enthält einen Wasserspender und zwei charakteristische parallele Eisenstäbe als Abstellfläche für Zuber und Giesskannen. Vier Schrifttafeln in Positivrelief am Stud machen den Brunnen zum Zeitdokument. Die Tafeln erinnern an die Not im Ersten Weltkrieg.

Die Wasserversorgung Zürich renovierte 1986 den Brunnen auf Bestreben von Ernst Sutter hin. Das Kapitell konnte man nicht mehr reparieren, man setzte dem Brunnen ein neues gleicher Bauart auf.

Quellen
– Martin Bürlimann, Kurt Gammeter: «Wipkingen Wibichinga Verlag, 2006
– Nordstrasse Zürich Wipkingen, Siedlungsdokumentation Nr. 3, Stadt Zürich Liegenschaftenverwaltung, 2012

 

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