Demenz aus Sicht eines Angehörigen

Wenn eine nahestehende Person an Demenz erkrankt, birgt dies Veränderungen für die Betroffenen und für ihr Umfeld. René Meier-Tschanen erzählt, wie die Krankheit das Leben seines Vaters und ihn selbst geprägt hat.

In der Schweiz leben etwa 148‘000 demenziell erkrankte Menschen.
1/2

Die Früherkennung einer Demenz ist für das Einleiten weiterer Schritte besonders wichtig, jedoch nicht immer einfach. Vergesslichkeit ist nun mal Teil des Alterns und wird in erster Linie nicht mit einer Erkrankung in Verbindung gebracht.

Wo ist nochmals…

Auch keinen Verdacht schöpfte René Meier-Tschanen, als sein Vater, Sepp Meier, wiederholt das Portemonnaie oder den Schlüsselbund suchte oder das Wasser auf dem Herd stehen liess. Auch den Briefkasten habe er zwei bis dreimal täglich aufgesucht, obwohl der Tages-Anzeiger auf dem Küchentisch schon darauf wartete, von ihm gelesen zu werden. Als schliesslich auch die monatlichen Rechnungen vergessen gingen, wendete sich René Meier-Tschanen an die Memory Clinic im Stadtspital Waid. Der damalige Befund: eine mittelgradige Alzheimer-Demenz.

Mir geht es gut

Die Diagnose liess Sepp Meier nicht kalt: «Mir geht es doch gut, ich bin kerngesund, kann nach wie vor aus dem Haus, wohne schon seit 60 Jahren hier und komme ganz gut zurecht.» Mit dieser Aussage hatte er nicht ganz unrecht. Aus diesem Grund integrierten die Angehörigen kleine Hilfestellungen in Sepp Meiers Alltag: Die Spitex wurde beigezogen, und die Nachbarin war regelmässig bei ihm zu Besuch. Zwei bedeutende Stützen, die die Betreuung seines Vaters erst ermöglichten. Zusammen mit seiner Frau erledigte René Meier-Tschanen den Wocheneinkauf, übernahm die Wohnungsreinigung und das Wäschewaschen. Die Umstellung forderte die beiden in organisatorischer, menschlicher und zeitlicher Hinsicht sehr: Findet er den Nachhauseweg? Was macht er jetzt gerade? Wann ist der richtige Zeitpunkt für ein Pflegeheim?
Mit dem Krankheitsverlauf änderte sich auch schleichend die Tagesstruktur von Sepp Meier. Das Tagesgeschehen grenzte sich immer mehr auf seine vier Wände ein. Selbstständiges Ausgehen oder der Besuch des Grabes seiner Frau waren ihm nicht mehr präsent. Der Haushalt sowie die eigene Körperhygiene überforderten ihn sichtlich.

Im neuen Zuhause

Nach einem Sturz und dem drauffolgenden Spitalaufenthalt seines Vaters musste René Meier-Tschanen handeln. Seit seinem Sturz verweigerte Sepp Meier das Aufstehen und Gehen, obwohl er es ohne Mühe gekonnt hätte. Die Demenz war so weit fortgeschritten, dass die selbstständige Alltagsbewältigung unrealistisch wurde. Im Anschluss an die Aufnahme- und Übergangspflege fand Sepp Meier ein neues Zuhause im Pflegezentrum Käferberg. Seit eineinhalb Jahren wohnt er nun hier und fühlt sich aufgenommen und wohl. In seinen Augen wohnt er in seiner alten Wohnung in Seebach, manchmal aber auch im Elternhaus in Luzern. Die Mitarbeitenden sowie die Bewohnerinnen und Bewohner auf der Abteilung sind für ihn seine «Nachbarn».
Seine Wesensart habe sich über die Zeit in keiner Weise verändert, erzählt René Meier-Tschanen. «Mein Vater ist bis zum heutigen Tag ein freundlicher, humorvoller, dankbarer und liebenswerter Mann geblieben. Das macht die ganze Sache irgendwie auch erträglich». Er sei sehr gesellig und immer für einen Spass zu haben. Genauso merke er aber auch, wenn ihm zu wenig Zeit oder Aufmerksamkeit gegeben wird.
Sepp Meier findet Freude an den kleinen Dingen des Lebens und kommt mit seinem Sinn für Humor und Optimismus trotz seiner Erkrankung gut durch den Alltag.

Begegnungen

Durch den Eintritt in das Pflegezentrum hat die gemeinsame Zeit enorm an Qualität gewonnen. Dank der spürbaren Entlastung durch das Pflegepersonal bleibt mehr Zeit für Spaziergänge, zum Kaffeetrinken, mehr Zeit, die Tanzveranstaltungen oder den Gottesdienst zu besuchen. Sepp Meier ist jedes Mal aufs Neue verblüfft, wenn sein Sohn ihn auf der Abteilung findet. «Gah i d‘ Kuchi und hol dir öpis, du weisch ja woh’s lit», heisst es dann meistens. Ist René Meier-Tschanen zu Besuch, wird viel erzählt: von Themen aus der Familie, aus Freundschaften oder aus dem Beruf. Und auch wenn sich manche Erzählungen wiederholen, beobachtet René Meier-Tschanen, dass sich sein Vater darin abgeholt fühlt. Die Geschichten schaffen Vertrauen und Geborgenheit, und wenn sein Vater es zulässt, erhascht auch er einen kleinen Einblick in seine Welt. Warten können und Zeit schenken, zwei Dinge, die René Meier-Tschanen durch die Erkrankung seines Vaters lernte. Den Zugang zu einer demenziell erkrankten Person zu schaffen, erfordert viel Geduld und Einfühlungsvermögen. Das Pflegepersonal erfülle eine sensationelle Aufgabe, wie er sie nie hätte erfüllen können. Kommt es dann zur Verabschiedung, möchte sein Vater von ihm genau wissen, warum und wohin er nun gehe. Für Sepp Meier gibt es nur eine akzeptable Antwort: zur Arbeit. Ist das nämlich nicht der Fall, solle René Meier-Tschanen doch einen Moment warten, dann komme er auch gleich mit.

Eingesandt von Lina Maria Bardaje

0 Kommentare


Themen entdecken