Der Kapitalismus hindert uns daran, frei zu sein!

Seit 50 Jahren dürfen Frauen in der Schweiz abstimmen – Hannah Maciejewski findet, die Frauen sollten sich jetzt nicht auf die Schulter klopfen, sondern den feministischen Kampf vorantreiben. Dieser Kampf ist für sie insbesondere auch einer gegen das kapitalistische System.

Hannah Maciejewski sieht den Weg zu einer besseren Welt in den sozialen Bewegungen statt in der institutionellen Politik.

Wie bist du zu deinem politischen Aktivismus gekommen und wie hat sich dieser über die Jahre geändert?

Hannah Maciejewski: Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, in dem viel über Politik gesprochen wurde – schon als Kind nahm mein Vater mich immer mit an 1.-Mai-Demos. Ein ausschlaggebendes Ereignis war für mich die Gegendemo zum «Marsch fürs Läbe» im Jahr 2015. Ich war 16 und ging dorthin, weil ich es wichtig und richtig finde, dass wir abtreiben können. Diese Demo wurde massiv von der Polizei angegriffen – das war wirklich absurd. Es gab über 100 Verhaftungen, auch ich wurde gefesselt abgeführt und mit auf den Posten genommen. Ich hätte mir das vorher überhaupt nicht vorstellen können. Dort habe ich gemerkt: Okay, da steckt mehr dahinter. Darauf habe ich begonnen, mich nach organisierten linken Orten umzusehen und bin in die Bewegung für den Sozialismus (BfS) eingetreten. Die Proteste 2016 zu den Sparmassnahmen, unter anderem bei der Bildung, waren für mich ebenfalls extrem wichtig. Im Gymnasium bildeten wir damals eine Schüler*innengruppe. Ich sammelte dabei wertvolle Erfahrungen darin, mich mit anderen Betroffenen zu organisieren und Aktionen zu planen. 2018 wurde ich zudem im feministischen Kollektiv aktiv und ich begann mich theoretisch mit Feminismus auseinanderzusetzen.

Weshalb hattest du nie das ­Bedürfnis, dich in der institutionellen Politik einzubringen?

Ich habe das Gefühl, dass Menschen, die aus einer Bewegungspolitik kommen und in die institutionelle Politik gehen, kläglich scheitern. Diese Personenpolitik – wenn es nur um einzelne Personen geht, die sich wählen lassen, und sie haben das Gefühl, sie alleine können etwas ändern – das funktioniert nicht. Man sieht das beispielsweise bei den Grünen, die kamen aus der Bewegung in eine institutionelle Politik, und jetzt machen sie – überspitzt gesagt – nichts mehr, ausser Windräder zu bauen. Ich glaube, es bremst aus, es trägt einem Grenzen auf, die man vorher nicht hatte. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir das alle zusammen anpacken. Diesen Weg sehe ich über die sozialen Bewegungen, wie einen Klimastreik oder ein feministisches Kollektiv, besser verwirklicht. Dort kommen verschiedenste Leute zusammen, die sich ohne diese Grenze, die einem die institutionelle Politik gibt, darüber austauschen, wie man die Welt verändern will.

Was ist das Ziel von deinem politischen Aktivismus? Hat sich das mit den Jahren verändert?

Weil ich in einer eher linken Familie aufgewachsen bin, habe ich zum Beispiel schon sehr früh das kommunistische Manifest gelesen – es stand halt zu Hause rum. Aber ich hätte damals nie den einzigen Weg in der Revolution gesehen. Mittlerweile finde ich: Die Revolution ist der einzige Weg, der noach Sinn macht, auch angesichts der Zeit, die uns noch bleibt – gerade bei der Klimakatastrophe. Es wäre völlig vermessen, das Gefühl zu haben, ich alleine wisse, wie diese Revolution dann genau aussieht. Der einzige Weg, das herauszufinden ist nun, dass wir die Revolution als soziale Bewegungen mit unterschiedlichen Perspektiven vorantreiben.

Ich habe in dieser Serie mit Zita Küng gesprochen. Auch sie hat auf eine Revolution ­gepocht – tönte aber nicht sehr hoffnungsvoll. Wo siehst du Hoffnung für eine solch grosse ­Veränderung?

Was mir immer wieder Hoffnung gibt, ist die internationale Perspektive. Es ist wichtig, sich international zu vernetzen und das Ganze nicht nur als Kampf im eigenen Land zu verstehen. Ich glaube nicht, dass die Revolution hier beginnt. Insofern bin ich nicht sehr hoffnungsvoll, dass die Revolution morgen in der Schweiz vor der Tür steht. Aber gerade in den letzten Jahren haben Leute überall auf der Welt – wie in Südafrika, Chile, Bolivien und Myanmar – begonnen, sich gegen neoliberale Politik zu wehren. Ich sage nicht, dass das Revolutionen waren, aber das waren soziale Kämpfe, und von denen bleibt auch etwas zurück: eine Vernetzung, eine gemeinsame Organisierung und Erfahrungen. Das gibt mir Hoffnung.

Was verstehst du unter Feminismus?

Grundsätzlich alles, was uns dazu befähigt, eine bessere Welt zu erschaffen. Feminismus hat für mich nicht ausschliesslich mit den Rechten für FTIQs (Frauen, trans, inter und queeren Personen) zu tun. Feminismus muss für mich auch antirassistisch sein und eine ökologische Perspektive haben. Und insofern ist Feminismus für mich auch antikapitalistisch. Die Klimakrise zeigt das sehr gut, aber auch in den feministischen Themen sieht man sehr oft: Der Kapitalismus hindert uns daran, frei zu sein. Für mich ist Feminismus ein Überbegriff für eine Perspektive auf eine bessere, gerechtere und ökologischere Welt.

Das ist eine sehr breite Definition. Kann man sagen, dass die feministische Bewegung mehr den Anspruch hat, eine systemische und antikapitalistische Politik zu verfolgen?

Es kommt darauf an, wo man hinschaut. Zum einen gibt es eine starke liberal-feministische Bewegung, die in den letzten Jahren aufgekommen ist: dieser «Glass-Ceiling»-Feminismus, der meint, wir müssen Quotenfrauen in die oberen Etagen bringen, dann wird alles gut. Das stimmt nicht. Als ob Frauen, die in den Chefsesseln einer Rüstungsfabrik sitzen, nicht genauso Waffen produzieren lassen. Das kam mit dieser ganzen Neoliberalisierung: Du als Individuum kannst es bis an die Spitze schaffen und dann bist du super. Und das wird jetzt aufs Mal als feministisch verkauft, wenn es eine Frau macht. Systemische Kritik spielt da gar keine Rolle – nach meiner Definition ist das nicht Feminismus. In den sozialen Bewegungen dagegen ist die Systemkritik schon von vielen Leuten ein Anspruch – natürlich nicht allen, in der Schweiz sind die Kollektive des feministischen Streiks zum Teil sehr heterogen.

Der Kapitalismus steht für dich im Widerspruch zu einer feministischen und ökologischen Welt. Inwiefern hängen diese Themen zusammen?

Es gibt zwei Ebenen. Zum einen ist es erwiesen, dass Frauen von der Klimakatastrophe stärker betroffen sind. 80 Prozent der Binnenflüchtlinge sind Frauen. Frauen sind schlechter an Infrastrukturen angebunden, verfügen über weniger Ressourcen, und müssen sich – global gesehen – trotzdem häufiger um die Ernährung von Angehörigen kümmern, was mit der Klimakrise schwieriger wird. Die Betroffenheit ist die eine Ebene, die andere ist viel theoretischer: Wenn wir von der Ausbeutung durch den Kapitalismus sprechen, meinen wir häufig einfach die Lohnarbeit. Diese hängt jedoch wiederum von der Ausbeutung von Frauen und der Natur ab. Die Arbeit, die Frauen leisten, die ganze Care-Arbeit, wird naturalisiert und abgewertet, sodass sie oft nicht oder nur schlecht bezahlt wird. Und mit der Natur ist es ebenso – die ist sowieso vorhanden, die Gesellschaft hat das Gefühl, diese Ressourcen brauchen zu können, ohne zu zahlen. Das gleicht sich sehr stark: Der Kapitalismus ist abhängig davon, dass die Arbeit der Frauen und die Ressourcen der Natur gratis zur Verfügung stehen – was, wenn nötig, gewaltvoll gesichert wird.

Welche konkreten Schritte gibt es, um diese Probleme anzugehen?

Für mich ist die Arbeitszeitverkürzung eine sehr wichtige Forderung. Weil sie uns mehr Zeit gibt – etwa für Care-Arbeit, weil sie alles etwas verlangsamt und den Kapitalist*innen nicht noch mehr Triebkraft gibt. Ausserdem ist sie ein Startpunkt für sinkende Produktion und somit hoffentlich einer anderen Organisierung der Produktion. Ausserdem brauchen wir demokratische Strukturen – demokratisch in dem Sinne, dass alle miteinbezogen werden, nicht nur die, die eine Staatsbürgerschaft haben. Ebenfalls wichtig ist, dass das ganze Sorge tragen für sich und andere, Leute pflegen und so weiter, das muss für mich fairer verteilt werden. Dafür müssen wir auch Strukturen schaffen, wie öffentliche KiTas, die das erlauben. Wichtig ist zudem die Abschaffung dieser sehr unnötigen und geldintensiven Finanzmärkte. Das ganze Geld, das an den Finanzmärkten herumgeschoben wird, hat massiv Einfluss auf unsere Umwelt, auf die Art und Weise, wie beispielswiese Lebensmittel produziert werden, welche Infrastrukturen gebaut werden, welche Energie wir nutzen und so weiter. Das muss für mich komplett umgekrempelt werden. All die Infrastrukturen, die wir brauchen, um zusammenzuleben, müssen unter eine demokratische Aufsicht gestellt werden. Die ganzen Finanzmärkte, die momentan einen grossen Einfluss haben auf diese Entscheidungen, müssen abgeschafft werden. Allgemein sollte es darum gehen, zusammen gut leben zu wollen. Insofern gehört für mich für eine bessere Welt dazu, den ganzen Reichtum gerecht zu verteilen und Leute zu enteignen.

Weshalb greift man sich am jetzigen System so fest und kann sich Alternativen nicht mal ansatzweise vorstellen?

Ich glaube zum einen hat es damit zu tun, dass das, was unter Kommunismus gelaufen ist, sehr oft katastrophal war, dass zudem ein Narrativ geschaffen wurde, gemäss dem der Kapitalismus gut und der Kommunismus schlecht funktionierten. Ich bin auch der Meinung, dass der stalinistische Kommunismus eine Katastrophe war, und ich würde das nie wollen. Ich bin aber überzeugt davon, dass auch der Kapitalismus nicht funktioniert. Das ist die eine Dimension, dass Leute finden: «Ui nein, Kommunismus, ui nein, Stalin, das ist mega schlimm». Sie haben sogar recht. Die andere Ebene ist, dass man nichts anderes kennt als unser kapitalistisches System. Privateigentum ist bei uns das höchste, was es gibt. Es ist das allerletzte, das du angreifen kannst. Auch von unserem Rechtssystem her, es wird immer geschützt – immer, immer, immer! Umzudenken, dass nicht das Privateigentum wichtig ist, sondern beispielsweise das Gemeinschaftswohl, das ist schwierig, weil man es anders nie erleben konnte. Es kann auch erschreckend sein, weil es sehr viel von der eigenen Wahrnehmung wie die Welt funktioniert in Frage stellt.

Der Anlass der Artikelserie ist 50 Jahre Frauenstimmrecht. Wie hast du diese Feier erlebt?

Mich nervt es ein bisschen, zuzuschauen, wie sich Leute auf die Schulter klopfen und finden: Wow, wir haben es so gut gemacht, seit 1971 dürfen Frauen bei uns abstimmen. Nebst dem, dass Menschen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft – ein Viertel der Bevölkerung – noch immer keine politischen Rechte haben, ist es einfach lächerlich, das feiern zu wollen. Auch das Gefühl zu haben, wir hätten jetzt Gleichstellung erreicht, ist so absurd. Statt einem Schulterklopfen sollte dieses 50-Jahr-Jubiläum Ausganspunkt sein für viele weitere Kämpfe.   

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