Der Wipkinger Bildersturm

Vor fünfhundert Jahren rissen drei Wipkinger alle Bilder aus der Kirche und warfen sie in die Limmat. Neun Jahre später starb ein Vorfahre von Salomon Rütschi zusammen mit Zwingli in der Schlacht bei Kappel. In den Jahrzehnten nach der Reformation gab es in Wipkingen einen sagenhaften wirtschaftlichen und freiheitlichen Aufschwung.

«Das Türmchen über dem Dach war weiss und hatte ein rotes Helmchen. Im Türmchen hingen zwei Glocken». Ausschnitt aus der ältesten bekannten Darstellung der Wipkinger Kirche aus einer Handschrift aus dem Jahr 1587.

Am 22. März 1524 kam es in Wipkingen zu einer Gerichtsverhandlung. Es ging um die Frage, ob Hans Baumgarten sein Pferd auf der Gemeindewiese weiden lassen dürfe. Baumgarten vertrat die Ansicht, dass er einen alten Brauch weiterführe und bat um einen Schirmspruch. Das Urteil war weise: Baumgarten durfte sein Pferd halten. Wenn dieses aber woanders hin als auf die Brach- oder Stroffelweid geht, solle die Gemeinde Baumgarten strafen. Angesichts der epochalen Umwälzungen in der damaligen Zeit scheint dieser Prozess um ein weidendes Pferd belanglos. Er zeigt aber eindrücklich, wie der Weiler vor den Toren Zürichs mit wirtschaftlichen Fragen umging. Eine Allmend braucht Regeln, sonst wird sie übernutzt. In den turbulenten Zeiten obsiegte die Vernunft.
In den 1520er Jahren nahmen die Wirrnisse ihren Lauf, die wir heute als Reformation bezeichnen. Die Zürcher Chorherren wählten 1518 Ulrich Zwingli zum Leutpriester. Die Leutpriester besuchten die umliegenden Dörfer und predigten in den Kirchen. Auf seinen Wanderungen durch die Zürcher Landschaft kam Zwingli auch nach Wipkingen, wo er die Messe las und Kranke besuchte. Er zog die Kirchgänger in den Bann: sehr wohl hörten sie seine Zweifel an der rechten Umsetzung der Lehre Jesu Christi durch die hohen Herren im Grossmünster. Vor allem predigte Zwingli in Mundart und nicht in Latein. Zwingli sprach zu den Leuten, er wählte einen Psalm oder ein Gleichnis aus der Bibel und predigte, damit die Kirchgänger darüber nachdenken sollten.

«Götzen aus dem Kilchli tuen»

Im Herbst 1523 stahlen in Höngg Unbekannte die Bilder aus der Kirche, und in der Kirche Stadelhofen sei ein Kruzifix am heiterhellen Tag umgeworfen worden, erzählte man im Dorf. Im September 1523 taten sich drei Wipkinger, Grosshans Ruotsch, Thomann Scherer und Lienhart Baumgartner, zusammen, schlichen nächtens in das Kirchlein, rissen die Heiligenbilder von der Wand und warfen sie in den Fluss. Sie wollten die «Götzen zu Wipkingen aus dem Kilchli tuen». Am nächsten Morgen war der Schrecken im Dorf gross. Viele waren mit der Tat einverstanden, auch wenn niemand dies zu sagen wagte. Büttel verhafteten die Frevler, und sie kamen vor den Rat der Stadt. Die Kirchgenossen im Dorf stellten sich auf ihre Seite. Eine eigens einberufene Gemeindeversammlung schützte die drei Bilderstürmer. Im Namen der Kirchgemeinde bat der gesandte Wipkinger Untervogt um Verzeihung, mit der Begründung: «Hätte vorher eine Gemeindeversammlung stattgefunden, so hätte man vielleicht beschlossen, die Bilder in ordentlicher Weise hinauszutun». Der Rat in Zürich erhörte die Fürbitte, zumal Ruotsch, Scherer und Baumgartner «seien der besten Meinung gewesen, recht zu handeln». Das Wipkinger Kilchli war leer und die Reformation vollstreckt, gut ein halbes Jahr vor dem Bildersturm im Grossmünster.

Zwinglis Tod

Ulrich Zwingli, der grosse Reformator und Erneuerer der Kirche, starb 1531 bei der Schlacht in Kappel. Zwingli wollte die Reformation in die ganze Eidgenossenschaft tragen, stiess dabei aber auf Widerstand der römisch-katholischen Stände in der Innerschweiz. Militär wurde aufgeboten, Innerschweizer Truppen, unter ihnen Marignano-Veteranen, sammelten sich hinter dem Albis – die Zürcher zögerten, schliesslich kam es am 11. Oktober 1531 gegen Abend zum Kampf, und die besser taktierenden Innerschweizer trieben die Reformierten über den Albis zurück und töteten mehrere Soldaten. Zwingli geriet als Feldprediger zwischen die Fronten und wurde erschlagen. Mit ihm starben neun Wipkinger Wehrmänner:

Lienhart Baumgartner
Hans Rütschi
Bürgi Burkhart
Rudolf Dietschi
Hartmann Baumgartner
Rüedi Hotz
Jakob Müller
Heini Appenzeller
Heinimann Wyss

Die toten Soldaten wurden später auf dem Schlachtfeld bestattet. Lienhart Baumgartner war einer jener drei, welche die Bilder aus der Kirche Wipkingen entfernt hatten. Hans Rütschi war ein Ahne Salomon Rütschis, der vier Jahrhunderte später die neue Kirche in Wipkingen mit einem Legat bedenken sollte.

Aufschwung

Inmitten der Umwälzungen blühte Wipkingen, trotz der Unbill jener Zeit. So beurkundete die Äbtissin vom Fraumünster im Jahr 1522 Peter Burkhart von Wipkingen den Verkauf seines Hofes an Hans Lavater, Bürger von Zürich für 547 Pfund und 9 Schillinge. Das Herrschaftsgut umfasste Hof, Schürtrotte und Reben am Käferberg, nochmals 3 ½ Jucharten Reben, 1 ½ Jucharte Weid mit Scheune sowie Holz und Holzrechte im Wald. Die Urkunde beweist, dass es damals prächtige Wipkinger Gehöfte gab, für welche reiche Bürger ganze Vermögen bezahlten. Auffallend häufig waren es Frauen, die Lehen oder Reben kauften. Die ältesten Landsitze, die namentlich bekannt sind, entstanden in dieser Zeit, so das Waidgut oder das Sydefädeli. Die Gemeinde zeigte sich erstarkt und selbstbewusst. Bereits 1588 ist überliefert, dass dem Frei-Fähnli und Banner der Stadt 40 Mann aus Wipkingen zugeteilt waren. «Ein Teil derselben wurde mit Harnisch und Spiess oder Halbarten ausgerüstet, andere trugen blosse Kegelhuben, wieder andere Schaufeln oder Harnischbüchsen», erzählt die Chronik.

1601

Angespornt von Reformator Zwingli nahm die Äbtissin Katharina von Zimmern 1524 den neuen Glauben an. Am 30. November 1524 übergab sie das Kloster formell dem Rat, mit all seinen Gütern, Rechten, Freiheiten und Herrlichkeiten. Der Weiler Wipkingen als Lehen war nun Eigentum des Rates. Das Kirchlein, welches fortan für den falschen Glauben stand, wurde 1525 geschlossen. Erst 1601 getrauten sich die Wipkinger mit dem Wunsch nach einer eigenen Kirche an die Gnädigen Herren zu Zürich zu treten. Sie erhielten die Erlaubnis und bauten ihr Kirchlein neu. Es hatte einen eigenen Friedhof und ein eigenes kleines Geläut. «Das Türmchen über dem Dach war weiss und hatte ein rotes Helmchen. Im Türmchen hingen zwei Glocken», hiess es in einer Chronik. Die ältere der beiden Glocken, eine Marienglocke mit 76 Kilogramm Gewicht und Ton «e», stammte aus dem Jahr 1500. Sie trug die Inschrift: «Ave.Maria.gracia.dominus.tecum.MCCCCC». Auch weltlich erstarkte die Gemeinde. 1601 teilte die Stadt die Frei-Fähnli neu ein. Dem Wehrdienst hatte Wipkingen zwei Eidgenossen zu stellen. Reislauferei gab es nicht mehr, die Eidgenossen hatten aber geschworen, sich gegen jeden Feind zu wehren.
Es ging lebhaft zu im Weiler im anbrechenden Jahrhundert. Die Bussenkasse der Obervögte füllte sich. Im Rodel sind Bussen verzeichnet wegen «Schlegleten», wegen «unchristlichen Worten» oder weil «geschelmet und diebet» wurde. 1606 traf es den alt Geschworenen Rütschi, welcher Pfarrer Wolf «schlechten Respekt» erwies. Rütschi hatte nach einem Stillstandstreffen zu Wolf gesagt: «Herr Pfarrer, uf eine unnütze Red gehört keine Antwort», worauf er saftig gebüsst wurde.

Superreiche in Wipkingen

Ab den 1580er Jahren zogen vermehrt Auswärtige nach Wipkingen, was sich mit den Einzugsbriefen belegen lässt. Im Einzugsbrief stand, wieviel ein Bürger für die Niederlassung in Wipkingen zahlen musste. Damit verbunden war die Haushofgerechtigkeit, also Erlaubnis, einen Haushalt zu führen, die Dorfgerechtigkeit, also Stimmrecht, und das Recht auf «Holtz und Veld, Wunn und Weid», Weiderecht und Ernterecht. Der Einzugsbrief galt auch als Beitritt zur Korporation mit Nutzungsrechten an Allmend, Wasser und Wald. 1590 betrug der Preis für den Einzugsbrief neun Gulden, was sehr teuer war: ein Pferd kostete drei Gulden. Die Stadt erhöhte den Preis für den Einzugsbrief bald auf zwölf Gulden, für Auswärtige zusätzlich 24 Gulden. Bereits 1610 stieg der Preis auf 30 Gulden und für jene, die von ausserhalb der Eidgenossenschaft zuzogen auf 60 Gulden und nochmals 60 Gulden Schirmgeld. Dies zeigt, dass Wipkingen damals blühte. Hier liessen sich die Superreichen nieder. Um diese Zeit tauchten auch neue Namen auf; nebst den Rütschis, Syfrigs, Okenfies oder Dietschis findet man in Urkunden Namen neuer Geschlechter, zum Beispiel der Besitzer der Weid, den Junker Blarer. 1634 fand in Wipkingen die erste Volkszählung statt. Pfarrer Hans Caspar Waser besuchte jedes Haus im Dorf und erfasste Vater, Mutter und ihre Kinder mit Namen und Alter. Die Zählung ergab 230 Seelen in der Gemeinde. Einem Steuerrodel von 1639 kann man die Familiennamen entnehmen: Sie hiessen Rütschi, Abegg, Fürst, Laubi, Hotz, Siegfried, Forster, Burkhart, Waser, Ammann und Scherer. 1639 lebten hier 56 steuerpflichtige Familien, die zusammen 52 Pfund Steuern bezahlten. Wipkingen war ein Jahrhundert nach der Reformation eine stolze, reiche, freie Gemeinde.

Quellen:
Conrad Escher, Rudolf Wachter: Chronik der Gemeinde Wipkingen.
Archiv Jakob Frei (Stadtarchiv Zürich).
Handschrift: Johann Jakob Wick: Sammlung von Nachrichten zur Zeitgeschichte aus den Jahren 1560 bis 1587.

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