Der Wipkinger Schulhausbau

Vor genau 200 Jahren, am 19. Mai 1824, weihte die Gemeinde Wipkingen ihr neues Schulhaus ein. Das Schulhaus und die Wahl des neuen Lehrers zeigen, wie modern und fortschrittlich Wipkingen damals war.

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Das Wipkinger Schulhaus, erbaut 1824 vor genau 200 Jahren in einer Fotografie von 1924 mit dem Lindebänkli und der Linde. (Foto: BAZ)

Die Wipkinger Lokalgeschichte ist ein Mosaikstein der Landesgeschichte. Der Lehrerwahl von 1821 ging eine heftige Auseinandersetzung voraus. Pfarrer Hans Georg Finsler verkündete von der Kanzel die ausgeschriebene Lehrerstelle, worauf zwei Bewerber in die engere Wahl kamen, Amman von Obermeilen und Johannes Weber von Ebertswil. Der Pfarrer schätzte Amman sehr, da er ein Kirchenmann war. Die Stillständer (der Vorläufer der Kirchenpflege) zogen Weber vor; als Grund gegen Amman konnten sie aber nicht ihre Meinung kundtun, er sei frömmlerisch, es hiess vielmehr, Amman verströme «einen unangenehmen Geruch aus dem Munde».

Ammans Wahl war für Pfarrer Finsler beschlossene Sache, aber zwei Stillständer weibelten bei jedem Erziehungsrat persönlich für ihren Kandidaten. Sie traten dabei ausdrücklich als «Vertreter der ganzen Vorstehschaft und der Gemeinde» auf, was gelogen war. Wahrscheinlich durchschauten die Erziehungsräte das Manöver, aber die Wahl zwischen einem pfaffenhörigen Frömmler und einem modernen Erzieher fiel zugunsten der Moderne aus. Pfarrer Finsler akzeptierte die Wahl, aber er konnte sich nicht damit abfinden und gab sein Amt zwei Jahre später ausdrücklich wegen Lehrer Weber ab.

Der 23-jährige Lehrer Weber legte sich ins Zeug. 98 Schüler drängten sich in der winzigen Schulstube im Gemeindehaus neben dem Scharfen Eck. Seine Schüler bestanden das erste Winterexamen mit Bravour. «Der Schulmeister hat in der kurzen Zeit seit seinem Amtsantritt schon Bedeutendes geleistet und es wurde freudige Hoffnung für die Zukunft ausgesprochen», schrieb der Stillstand in einem Schulprotokoll.

Weitsichtiger Schulhausbau

Weber empfahl ein Schulhaus zu bauen, damit man in Klassen und nach einem neuen Lehrplan unterrichten könnte. Für 170 Gulden kaufte der Gemeinderat Boden «vor dem Eingang des Dorfes rechts an der Landstrasse», wie die heutige Hönggerstrasse damals hiess. Zur Finanzierung verkaufte man das alte Schul- und Gemeindehaus, sammelte Spenden und ersann Geldquellen. 5650 Gulden sollte das neue Schulhaus kosten, offerierte der Wollishofer Baumeister Staub. Die Industriellen in den Landsitzen im Letten schenkten der Gemeinde 1797 Gulden in einer freiwilligen Steuer. Die Holzkorporation spendete eine Eiche vom Käferberg. Für den Aushub reichte es nicht mehr, dazu wurden die Wipkinger zum Frondienst aufgeboten.

Bereits am 19. Mai 1824, einem Mittwoch, fand die Einweihung statt. An der Spitze seiner Schülerschar zog Lehrer Weber von der Schulstube ins neue Schulhaus, wo die Schüler mit Brot, Wurst und Wein verköstigt wurden. Zum Fest sang der neu gegründete Sängerverein, der spätere Männerchor Wipkingen. Zu Martini 1824 begann das neue Schuljahr im prächtigen Schulhaus; alle 98 Kinder erschienen zur Winterschule.

Hart umkämpfter Lehrplan

Wer bestimmt den Lehrplan? Die Kirche oder der Kanton? Um diese Frage drehte sich der Konflikt ab den 1820er-Jahren. Nach einem turbulenten Wahlkampf setzte 1833 das Volk in einer Abstimmung ein neues kantonales Sekundarschulgesetz durch. Die «Schulmeister» hiessen nun offiziell «Schullehrer», die Volksschule war obligatorisch, und der neue Stundenplan war Pflicht. Das neue Schulgesetz entmachtete den Stillstand. An seine Stelle trat erstmals eine Schulpflege aus gewählten Volksvertretern.

Von den Kirchenvertretern gab es Widerstand, da ihnen die Obhut über die Kinder entgleiten würde und die Stoffpläne unerhört modern waren: Nebst Fächern wie Deutsch und Französisch gab es nun Zahlenlehre, Geografie, Geschichte und vaterländische Staatseinrichtung, weiter Naturkunde, Gesang, Zeichnen und Schönschreiben. Damit kamen die damals gelehrten Stoffe Bibelkunde und Katechismus arg ins Hintertreffen. Stossend für viele waren die «angemessenen Leibesübungen» für Knaben und Mädchen auf einer Wiese. An der frischen Luft sollte der Turnunterricht Gesundheit, Stärke und Geschmeidigkeit fördern; für Mädchen und Knaben gemeinsam.

Prägende Persönlichkeit

Weber leistete seinen Schuldienst im neuen Schulhaus 44 Jahre lang, von 1824 bis 1868. Seine Schule in Wipkingen war lange Zeit eine Musterschule im Bezirk. Lehrer Weber war streng und legte Wert auf Disziplin, Pünktlichkeit und Exaktheit. Er gründete im neuen Schulhaus eine private, freiwillige Schule. Sie stand den gescheitesten Schülern offen. Heute würde man dies Hochbegabtenförderung nennen: Weber unterrichtete in der Privatschule auch Salomon Rütschi, den späteren Gemeindeschreiber und Seidenfabrikanten. Lehrer Weber sang ersten Tenor im Männerchor, dem kulturellen Zentrum der Gemeinde und dem politischen Gegengewicht zur Kirche. Seine bedeutende Bibliothek stand der Bevölkerung offen.

Er verurteilte die Kinderarbeit scharf und setzte die Schulpflicht durch. Er wurde eine dominierende Persönlichkeit im Dorf. Allerdings gebärdete sich Weber öfters «ungehörig gegenüber der Kirchenpflege und der Schulpflege» und man hörte Klagen wegen «überharter Züchtigung der Zöglinge». Es gab Auseinandersetzungen und offene Feindschaften, da Weber die neuen Lehrpläne rigoros umsetzte. Wegen ihm büsste der Dorfpolizist reihenweise Eltern, die ihre Kinder in die Felder und in die Fabrik schickten statt in seine Schule.

Zum 50-Jahr-Dienstjubiläum Webers 1868 organisierte das Dorf eine Feier und würdigte das lange Wirken ihres Lehrers; im Bewusstsein, was er für Dorf und Vaterland geleistet hatte. Wenige Monate später ersuchte Weber um seinen vorzeitigen Ruhestand. Dieser wurde ihm gewährt. Kurz darauf, am 15. Juli 1869, starb er und wurde im Friedhof neben dem Kirchlein zur Ruhe gebettet. Abdankung und Grabrede hielt Pfarrer Dieter Georg Finsler, ein Sohn von Hans Georg Finsler.

Deklassiert und abgebrochen

Das Schulhaus an der alten Landstrasse diente in all den Jahren auch als Feuerwehrmagazin, Polizeiposten, Singlokal, Weinkeller, Gefängniszelle und Pfarrwohnung. 1851 pflanzte die Gemeinde zur Feier des 500-Jahr-Jubiläums des Beitritts des Kantons Zürich in die Eidgenossenschaft eine Linde vor dem Schulhaus. Das Gebäude hiess im Volksmund «Beim Lindebänkli».

Das Schulhaus wurde später unter Denkmalschutz gestellt. Mitte der 1960er-Jahre fand ein Landabtausch statt, und das Grundstück ging in private Hände über. 1971 ging ein Baugesuch für ein Bürogebäude mit Ladenlokal und Garage für 30 Parkplätze ein. Der Denkmalschutz setzte sich für das alte Schulhaus ein. Es stand in der Liste der Kunstdenkmäler des Kantons Zürich als «Giebelbau mit Erd- und Obergeschoss» und einem «Vordach vor der Haustür der nördlichen Giebelseite, das abgewalmt ist und auf zwei glatten Säulen mit Wulst ruht».

Als schützenswert galt auch das baumbestandene öffentliche Plätzchen mit Durchgangstreppen, eingefügt in den Spitzwinkel der beiden Strassen. Als man die Hönggerstrasse erneut als zu schmal taxierte, verschwand das Schulhaus plötzlich aus der Liste der schützenswerten Bauten. 1971 wurde es abgerissen, zum Bedauern vieler Wipkinger.

Quellen

Martin Bürlimann, Kurt Gammeter: «Damals», Wibichinga Verlag, 2023.
Nachlass Jakob Frei, Stadtarchiv.
Diverse Urkunden und Unterlagen aus dem Stadtarchiv Zürich.

1 Kommentare


Jean Pierre Cotti

28. März 2024  —  15:58 Uhr

Auch dieser Text gibt vertieften Einblick in Umstände und Verhältnisse von damals. Wie viel Intrige eingesetzt wurde, um Ideen und Anliegen durchzusetzen, ist heute ähnlich in Wahl- und Abstimmungs-„Kämpfen“.
Solche Berichte lese ich gerne.

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