Die Bilderstürmer von Wipkingen

Im September 1523, vor genau 500 Jahren, stürmten drei Wipkinger in die alte Kirche, rissen die Bilder von den Wänden und vom Altar und warfen sie in die Limmat.

Der Rat in Zürich und das Grossmünster erlaubten der Gemeinde Wipkingen 1601 einen eigenen Friedhof. Er lag hinter dem Kirchlein. (Zeichnung Lori, Rekonstruktion der Kirche Wipkingen um 1650)
Dieselbe Perspektive wie links, aber 400 Jahre später: Hier bei der heutigen Viventa-Schule lag im Mittelalter das alte Kirchlein mit dem Friedhof. (Foto: Kurt Gammeter, 2022)
Wibichinga und das Kirchlein in einer alten Handschrift: im Hintergrund symbolisiert der Üetliberg, vorne links der alte Kehlhof. Dies ist die einzige bekannte mittelalterlichen bildliche Darstellung der Kirche und des Kehlhofs vom Fraumünster. (Ausschnitt aus einer Handschrift von 1587).
Ein Einzugsbrief aus dem Jahr 1590: Wibichinga war eines der begehrtesten Dörfer rund um die Stadt. Das ehemalige Fraumünsterlehen entwickelte sich nach der Reformation prächtig und zog neue Bürger an, die sehr hohe Preise für die Niederlassung bezahlten. Die Urkunde wird im Stadtarchiv aufbewahrt.
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Die Geschichte des mittelalterlichen Weilers Wibichinga ist eng verknüpft mit dem Fraumünster. Die geschriebene Geschichte des Weilers beginnt im Jahr 881, als der deutsche Kaiser Karl der Dicke seinem Getreuen Wolfgrim den Weiler Wibichinga als Fraumünsterlehen zur Nutzniessung schenkte. Der Weiler selbst ist viel älter; bereits zur Römerzeit lebten hier Menschen. Bei der heutigen Lehenstrasse stand einst ein stolzer römischer Gutshof (siehe «Wipkinger Zeitung» Juni/2021).

Der Name Wibichinga geht auf alemannische Siedler zurück, die im 3. Jahrhundert einwanderten. Siedler mit einem Anführer namens Wipko, Wibeko oder ähnlich, liessen sich hier nieder und gaben dem Dorf seinen Namen.

Das Fraumünster wurde im Jahr 853 von Ludwig dem Deutschen, einem Enkel Karls des Grossen, gegründet und mit Schenkungen versehen. Der Getreue Wolfgrim, der Wibichinga als Lehen zur Nutzniessung erhielt, sollte es bei seinem Ableben wieder der Äbtissin im Fraumünster zurückgeben.

Die Nachbarsgemeinde Höngg hatte seit Jahrhunderten eine eigene Kirche, aber diese gehörte nicht zum Grossmünster und Höngg war kein Lehen des Fraumünsters. Deshalb gingen die Wipkinger im frühen Mittelalter nicht in die Höngger Kirche zum Gottesdienst. In einer Urkunde aus dem Jahr 1270 ist erstmals ein Kirchlein in Wibichinga erwähnt.

In der Urkunde wird die kleine Kapelle zu Wibichinga zusammen mit jenen in Albisrieden, Oerlikon, Schwamendingen und Zollikon genannt. Die Mutterkirche war das Grossmünster, da Wibichinga zum Pfarrsprengel des Grossmünsters gehörte. Einen Friedhof gab es nicht, die Toten wurden in der Stadt Zürich auf dem Totenacker neben dem Grossmünster bestattet. Zur Kirche gehörte ein «Widumgut», also ein Pfrundgut, das jährlich «vier Mütt Kernen Zins» abwarf, mit denen der Leutpriester bezahlt werden sollte.

Wohlstand dank dem Fraumünster

Aus dem 14. und 15. Jahrhundert existiert eine Vielzahl von Urkunden, die in Wipkingen Handel mit Weingärten und ganzen Höfen bezeugen. Unter der Obhut der Fraumünsterabtei herrschte im Dorf ein Unternehmergeist, der reiche Bürger anzog und Landleute zu Gutsbesitzern werden liess. Wipkingen entwickelte sich vom armen Bauerndorf zur reichen Vorortsgemeinde Zürichs.

Die Äbtissinnen förderten Arbeit und Fleiss. Die kirchliche Seelsorge, stets vom Grossmünster besorgt, legte den geistigen Nährboden für den Wohlstand, der sich mit der Zeit ausbreitete. Im Zentrum des Dorfes lag die schlichte, kleine Kirche, von den Menschen geliebt und gepflegt. Sie taten sich zusammen und kauften eine Glocke für ihre Kirche.

Im Jahr 1500 ertönte die Marienglocke im Dorf und rief weit ins Land hinaus. Ein lateinischer Spruch zierte das Marienglöcklein: «Ave.Maria.gracia.dominus.tecum.MCCCCC.» Unter Schirm und Schutz des Fraumünsters entwickelte sich der Weiler Wibichinga gedeihlich. Die Äbtissinnen sorgten sich um die Menschen in den Weilern, und unter benediktinischer Obhut blühten die Obstgärten, wurden Felder und Weiden gepflegt, Tiere gezüchtet und Wälder genutzt.

Nie in der elfhundertjährigen Geschichte des Fraumünsters wurden die Höfe geplündert oder die Leibeigenen versklavt. Zinsen und Zehnten waren zwar hoch, aber immer zahlbar für die Leibeigenen, ohne dass sie wegen der Zinslast verarmten. Das Fraumünster selbst bot immer Schutz für die kleine Gemeinde und die Äbtissinnen missbrauchten ihre Macht nie.

Die Reformation

In den 1520er-Jahren nahmen die Wirrnisse ihren Lauf, die wir heute als Reformation bezeichnen. Die Reformation im Jahr 1524 trennte Kirche und Staat. Die göttlichen Gesetze und die weltlichen Gesetze galten nun als Zweierlei. Gesang und Orgel verschwanden, man entfernte alle Bilder in der Kirche und übertünchte die Wandmalereien. Dies galt im Grossmünster und bald auch in allen Kirchen der nahen Umgebung. Die Leutpriester verkündeten dies den Kirchgängern.

Inmitten der Umwälzungen blühte Wipkingen, trotz der Unbill jener Zeit. So beurkundete die Äbtissin vom Fraumünster im Jahr 1522 den Verkauf eines Hofes an Hans Lavater, Bürger von Zürich für 547 Pfund und 9 Schillinge. Das Herrschaftsgut umfasste Hof, Schürtrotte und Reben am Käferberg, Weide mit Scheune sowie Holz und Holzrechte im Wald. Die Urkunde beweist, dass es damals prächtige Wipkinger Gehöfte gab, für welche reiche Bürger ganze Vermögen bezahlten. Auffallend häufig waren es Frauen, die mit Lehen oder Rebgütern handelten. Die Gemeinde zeigte sich erstarkt und selbstbewusst.

Der Wipkinger Bildersturm

Die Zürcher Chorherren wählten 1518 Ulrich Zwingli zum Leutpriester. Die Leutpriester besuchten die umliegenden Dörfer und predigten in den Kirchen. Auf seinen Wanderungen durch die Zürcher Landschaft kam Zwingli auch nach Wipkingen, wo er die Messe las und Kranke besuchte.

Er zog die Kirchgänger in den Bann: Sehr wohl hörten sie seine Zweifel an der rechten Umsetzung der Lehre Jesu Christi durch die hohen Herren im Grossmünster. Zwingli sprach zu den Leuten, er wählte einen Psalm oder ein Gleichnis aus der Bibel und predigte in Mundart, damit die Kirchgänger darüber nachdenken sollten.

In Höngg stahlen Unbekannte die Bilder aus der Kirche, und in der Kirche Stadelhofen sei ein Kruzifix am heiterhellen Tag umgeworfen worden, erzählte man im Dorf. Der Kirchenstreit wurde immer schärfer und handgreiflicher geführt. Im September 1523 taten sich drei Wipkinger, Grosshans Ruotsch, Thomann Scherer und Lienhart Baumgartner, zusammen, schlichen nächtens in das Kirchlein, rissen die Heiligenbilder von der Wand und warfen sie in den Fluss. Sie wollten die «Götzen zu Wipkingen aus dem Kilchli tuen».

Am nächsten Morgen war der Schrecken im Dorf gross. Viele waren mit der Tat wohl einverstanden, auch wenn niemand dies zu sagen wagte. Büttel verhafteten die Frevler und sie kamen vor den Rat der Stadt. Die Kirchgenossen im Dorf stellten sich mutig auf ihre Seite.

Eine eigens einberufene Gemeindeversammlung schützte die drei Bilderstürmer und man beauftragte einen Untervogt und einen zweiten Bürger, beim Rat in Zürich vorstellig zu werden. Im Namen der Kirchgemeinde bat der gesandte Wipkinger Untervogt um Verzeihung, mit der Begründung: «hätte vorher eine Gemeindeversammlung stattgefunden, so hätte man vielleicht beschlossen, die Bilder in ordentlicher Weise hinauszutun; denn man hätte es nicht ungern vollzogen, sofern es M. Herren vom Rat nicht widrig sein möchte», zitiert die Escher-Chronik die Fürbitte des Untervogts.

Der Rat in Zürich erhörte die Fürbitte, zumal Ruotsch, Scherer und Baumgartner «weder ärgerliche Reden noch Schwüre geführt, ihr Unternehmen niemand zu Trotz oder Verachtung ausgeführt, sondern seien der besten Meinung gewesen, recht zu handeln». Sie schworen auch beim Verhör, dass sie die Bilder nicht zerschlagen hatten. Die Wipkinger Kirche war leer und die Reformation vollstreckt, gut ein halbes Jahr vor dem Bildersturm im Grossmünster.

Das Kirchlein wird geschlossen

Die letzte Fraumünster-Äbtissin, Katharina von Zimmern, hob im Zuge der Reformation 1524 den Konvent auf und übergab alle Rechte und Besitzungen dem Rat von Zürich. Dieser verfügte im selben Jahr, dass das kleine Kirchlein in Wipkingen geschlossen werden sollte. Es diente lediglich der Messe, und die Leutpriester konnten weder Predigt noch das neu eingeführte Abendmahl abhalten.

Erst 1601, bei Anbeginn des neuen Jahrhunderts, wagten es die Wipkinger Gläubigen, mit untertänigster Bitte an die gnädigen Herren des Rats zu gelangen. Es möge der Gemeinde erlaubt werden, die alte Kapelle als neue Kirche herzustellen. Weiter möge die Obrigkeit einen Gemeindegottesdienst einrichten und einen Pfarrer bestellen. Der Rat bewilligte diesen Wunsch und die Chorherren im Grossmünster gaben ihren Segen für den Umbau.

Im Zuge der Reformation erhielt der Pfarrsprengel auch die Erlaubnis für einen eigenen Friedhof. Bis 1541 bestatteten die Wipkinger ihre Verstorbenen in der Stadt Zürich auf dem Totenacker neben dem Grossmünster. Danach beerdigten sie die Verstorbenen beim «Spitalergarten», einem Platz neben der Predigerkirche. In Wipkingen lag der neue, eigene Friedhof von 1601 hinter dem Kirchlein, der dem Dorf abgewandten Seite. Er war mit einem Mäuerchen umfriedet. Der erste Wipkinger Pfarrer der Neuzeit, Hans Rudolf Leemann, hielt die Abdankungen und leitete die Begräbnisse.

Superreiche in Wipkingen

Einige Zeit nach der Reformation erlebten die Zürcher Vorortsgemeinden einen wirtschaftlichen Aufschwung. Wipkingen wurde begehrtes Ziel wohlhabender Bürger, die der Enge und dem Gestank der mittelalterlichen Stadt entfliehen wollten. Ab den 1580er-Jahren zogen vermehrt Auswärtige nach Wipkingen, was sich mit den Einzugsbriefen belegen lässt.

Im Einzugsbrief stand, wie viel ein Bürger für die Niederlassung in Wipkingen zahlen musste. Damit verbunden war die Haushofgerechtigkeit, also Erlaubnis, einen Haushalt zu führen, die Dorfgerechtigkeit, also Stimmrecht, und das Recht auf «Holtz und Veld, Wunn und Weid», Weiderecht und Ernterecht. Der Einzugsbrief galt auch als Beitritt zur Korporation mit Nutzungsrechten an Allmend, Wasser und Wald.

1590 betrug der Preis für den Einzugsbrief neun Gulden, was sehr teuer war: ein Pferd kostete drei Gulden. Die Stadt erhöhte den Preis für den Einzugsbrief bald auf 12 Gulden, für Auswärtige zusätzlich 24 Gulden. Bereits 1610 stieg der Preis auf 30 Gulden und für jene, die von ausserhalb der Eidgenossenschaft zuzogen auf 60 Gulden und nochmals 60 Gulden Schirmgeld. Dies zeigt, dass Wipkingen damals blühte. Hier liessen sich die Superreichen nieder.

1634 fand in Wipkingen die erste Volkszählung statt. Pfarrer Hans Caspar Waser besuchte jedes Haus im Dorf und erfasste Vater, Mutter und ihre Kinder mit Namen und Alter. Die Zählung ergab 230 Seelen in der Gemeinde. Um diese Zeit tauchten auch neue Namen auf; nebst den Rütschis, Syfrigs, Okenfies oder Dietschis findet man in Urkunden Namen neuer Geschlechter, zum Beispiel den Besitzer der Weid, den Junker Blarer.

Die ältesten Landsitze, die namentlich bekannt sind, entstanden in dieser Zeit, so der «Grenzstein» oder das «Sydefädeli». Wipkingen war ein Jahrhundert nach der Reformation eine stolze, reiche, freie Gemeinde.

Quellen

Conrad Escher, Rudolf Wachter: Chronik der Gemeinde Wipkingen, Orell Füssli, 1917.
Archiv Jakob Frei (Stadtarchiv Zürich).
Handschrift: Johann Jakob Wick: Sammlung von Nachrichten zur Zeitgeschichte aus den Jahren 1560 bis 1587.

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