Quartierleben
Die Frauenkolonie Lettenhof
Der Weg, der vom Jugendhaus Dynamo zur Kornhausbrücke führt, ist nach der Zürcher Architektin Lux Guyer benannt. Ihre 1927 erbaute Siedlung Lettenhof ist ein Meilenstein in der Architekturgeschichte und prägte das Lettenquartier.
25. Juni 2019 — Martin Bürlimann
Anfangs der 1920er-Jahre war der Letten als Teil des Stadtquartiers Wipkingen noch von Landwirtschaft dominiert. Die Bauernfamilien Hotz, Frauenfelder oder Schumacher besassen Felder, auf denen Reben und Getreide wuchsen oder Kuhweiden und Apfelbäume standen. Der Gegensatz zum Teil westlich der Bahnlinie tritt in alten Luftaufnahmen deutlich zutage. Die markanten Landsitze Okengut und Von-Wyss-Gut dominierten den östlichen Teil des Lettenquartiers nebst dem Schulhaus und den Industriebauten am Fluss.
Der grosse Bauboom fand in den mittleren 1920-Jahren statt mit den Genossenschaftsbauten der Baugenossenschaft Letten (BGL) und der Baugenossenschaft des Eidgenössischen Personals (BEP). Diese Siedlungen waren Teil eines städtebaulichen Projekts aus der Ära von Stadtbaumeister Hermann Herter.
Mit den Siedlungen zogen auch neue Menschen in den Letten. Vormals dominierten nebst der Landwirtschaft klassische Handwerksberufe das Quartierbild. Die Bauten der Genossenschaften veränderten die Gemeinschaft. In den Zürcher Adressbüchern nach 1920 stehen Namen und Berufe der Zugezogenen: In den Personalhäusern an der Imfeldstrasse wohnten vorwiegend Staatsangestellte. Die Angestellten des stark gewachsenen Bahnhof Letten prägten nun auch das Dorfbild: Kondukteur, Einnehmer SBB, Fahrdienstarbeiter, Rangierarbeiter, Gepäckarbeiter, Weichen¬wärter, Heizer, Maschinisten, Schlosser, Bremser, Lokomotiv-Führer, Stationschef, Zugführer oder Gepäckspetter sind aufgelistet.
Nebst Bähnlern wohnten auch Pöstler im Letten: einen Postexpressbote, Telegraphenangestellte, Postbureaudiener, Zollbeamte, Briefträger und einen Postcommis verzeichnet das Adressbuch. Ebenso vielseitig waren noch die Berufe des klassischen Gewerbes: Maler, Buchhalter, Bautechniker, Maurer, Färber, Strassenarbeiter, Taglöhner und ein Schuhmacher finden sich.
Von Frauen finanziert und erbaut
Eine Siedlung im Letten stach architektonisch und städtebaulich besonders hervor: Die Zürcher Architektin Lux Guyer hatte anfangs der 1920er-Jahren in Zürich ein Architekturbüro eröffnet. Sie war die erste Architektin in der Schweiz mit eigenem Büro und eigenen Grossprojekten. Eines ihrer bedeutendsten Werke war die Frauenwohnkolonie Lettenhof. Diese stand am Imfeldsteg 2 und an der Wasserwerkstrasse 106 bis 108. Die «Baugenossenschaft berufstätiger Frauen» wollte werktätigen, alleinstehenden Frauen moderne Wohnungen anbieten. «Durch die Architektin Lux Guyer ist im Letten eine Häusergruppe erstellt worden, die ihre Entstehung der Initiative einiger Zürcher Frauen verdankt und für Mieterinnen jeden Standes und Alters bestimmt ist», schrieb 1928 die Zeitschrift «Das Werk: Architektur und Kunst».
In Auftrag gegeben und finanziert wurde das Projekt von einer Reihe Frauenorganisationen, die das Bauen von preisgünstigen Wohnungen für alleinstehende Frauen selbst in die Hand nahmen. Das «Protektorat für alleinstehende Frauen» nahm sich hauptsächlich älterer Frauen an, aus der Gruppe «Weibliche Angestellte des Kaufmännischen Vereins» ging später die «Baugenossenschaft berufstätiger Frauen» hervor, während die Frauenzentrale selbst als «Baugenossenschaft Lettenhof» unternehmerisch tätig wurde.
Die Geschichte der Baugenossenschaften verlief keineswegs glatt und rund, es finden sich genauso wie bei den Privaten Pleiten, Konkurse und Fehlinvestitionen. Die Siedlung Lettenhof gehört zum erfolgreichen Teil der Genossenschaftsgeschichte: Ziel war es, nach Einteilung und Preis verschiedene Wohntypen zu schaffen. Drei Bauherrschaften teilten sich die Aufgabe, indem jede ihr Haus eigenständig finanzierte und den Bedürfnissen der künftigen Bewohnerinnen anpasste. Die Genossenschafterinnen waren verpflichtet, Anteilsscheine von 600 bis 1’800 Franken zu zeichnen. Dies entsprach etwa einer Jahresmiete, die Wohnungen kosteten zwischen 500 und 1’600 Franken im Jahr. Mit den Anteilsscheinen finanzierte die Genossenschaft der werktätigen Frauen Darlehen zu 6 Prozent Zins. Der Landerwerb wurde gemeinsam vorgenommen und die äussere Gestaltung unter Leitung der Architektin Lux Guyer als geschlossenes Ganzes einheitlich durchgeführt. Weiter gehörte eine ausgedehnte Gartenanlage und ein Restaurant, geleitet vom Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften, zur Siedlung. Die Siedlung war auch finanziell ein Erfolg: «Kreditüberschreitungen haben bei den Häusern der Frauenzentrale kaum stattgefunden, so dass die Durchführung umso mehr als eine sehr gelungene bezeichnet werden darf, als sich auch alle Bewohnerinnen äusserst befriedigt über das ihnen Gebotene aussprechen», hiess es in der Zeitschrift «Das Werk».
Die Innenausstattung der Wohnungen war für die 1920er-Jahre spektakulär und hatte ein Niveau, wie es keine andere Genossenschaft und kein privater Bauherr der damaligen Zeit zustande brachte. «Jedes Haus hat Waschküche und Trockenplatz, sowie Verschlage für alle Wohnungen im Dach», schrieb die Zeitschrift weiter.
Unerhört modern waren breite, zusammenlegbare Fenster, verglaste Doppeltüren und eingebaute Wandschränke. «Zugleich wurde danach getrachtet, die Mieterinnen möglichst von der Hausarbeit zu entlasten. Zentralheizung, elektrische Boiler, Speiseschränkchen und Aussenlüftung, nach Taylorschen Gesichtspunkten eingerichtete Küchen, Fächer für die Aufnahme von Milch und dergleichen im Hausgang erleichtern der viel von Hause abwesenden Frau den Betrieb», schrieb die Zeitschrift «Das Werk».
Treppenreinigung, Garten- und Putzarbeiten ums Haus herum, im Keller und die Beförderung der Kehrichteimer wurden durch ein Abwartsehepaar besorgt. Dort konnten sich die Mieterinnen auch einen Staubsauger ausleihen und das Telefon benutzen. Gegen Entgelt stand auch Personal für andere Arbeiten zur Verfügung.
Im Letten gab es 1929 nur fünf Telefonanschlüsse in Privathäusern: Bei der Wirtin Marie Weippert, der Gärtnerei Schneider, bei Bildhauer Scheuermann, bei Frau Ida Ferrière-Hirt und der BEP. Die Genossenschaftswohnungen waren sämtliche noch ohne Telefon – ausser der Lux-Guyer-Siedlung, welche in allen vier Bauten ein Telefon installiert hatte.
Ein Merkmal der Lux-Guyer-Siedlungen sind die grossen Fenster und die progressive Innen¬ausstattung, bei der die Zimmer teilweise offen angelegt und mit Doppelglastüren verschliessbar waren. Die Küchen waren jeweils mit dem Wohnbereich verbunden. Generell war der Komfort sehr hoch. Es gab in Schränken eingebaute Waschbecken mit fliessend Wasser, Wandschränke im Schlafzimmer und Kochnischen mit elektrischem Herd. Das Spektakulärste aber waren die Schlafzimmer mit nach Süden gerichteten Balkone mit zweiflügligen Balkontüren. Dies gab es höchstens in Herrschaftshäusern.
Neue Quartierbewohnerinnen
In der Lux-Guyer-Siedlung wohnten werktätige Frauen. Sie verdienten ihr eigenes Geld, arbeiteten in verschiedenen Berufen, lebten selbstständig und verfügten über ein eigenes Bankkonto und nun auch über eine eigene Wohnung. Das Telefonbuch von 1929 (siehe Bild) listet Namen und Berufe auf: Damenschneiderin, Telephonistin, Bureaulistin, kaufmännische Angestellte, Spetterin wohnten an der Wasserwerkstrasse 106. Weiter lebten hier Kindergärtnerinnen, Bankangestellte oder Lehrerinnen. «Zürich kann sich rühmen, als erste Schweizer Stadt einem dringenden Bedürfnis unserer Zeit entsprochen zu haben: Der Schaffung von Wohnungen für alleinstehende und besonders für berufstätige Frauen», rühmte die Illustrierte schweizerische Handwerker-Zeitung den gelungenen Bau.
Quellen:
Illustrierte schweizerische Handwerker-Zeitung, Heft 42, 1927
Das Werk: Architektur und Kunst, Zeitschrift, Heft 15, 1928
Stadtzürcher Adressbuch, Orell Füssli, 1929
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