Die Wipkinger Betteljagd

Im letzten Jahr der Helvetik, 1803, fand in Wipkingen die letzte Betteljagd statt. Andere demokratische Institutionen überstanden in Wipkingen das Ancien Régime und die napoleonische Besatzung.

1
Salomon Ruppert (1741-1805), «Adjunkt des löbl. Stadtquartiers» und «Capitain Aide Major von Zürich», leitete 1803 die letzte Wipkinger Betteljagd (Zentralbibliothek Zürich).

Vier Jahre nach der Schlacht in Zürich, 1803, ist eine aus heutiger Sicht nur schwer verständliche Episode überliefert. In Wipkingen fand eine organisierte Betteljagd statt. «Verarmte Menschen, Verwahrloste, Kranke und Invalide hatten sich in unheimlicher Weise vermehrt», berichten alte Protokolle. Die kirchlichen Hilfswerke waren überfordert. Nebst Bettelei und Almosen kam es zu Diebstählen und Plünderungen von Vorratskammern. Die Betteljagden waren von alters her verbreitet. Man trieb das Gesindel zusammen und jagte es fort, möglichst weit weg. Im Ancien Régime, der Zeit vor dem napoleonischen Einmarsch, sind Betteljagden überliefert. Jene in Wipkingen war eine der letzten.

Im Herbst 1803 waren 32 Mann aus der Bürgerschaft aufgeboten, «das Gesindel zusammenzutreiben, die Bettler in Gewahrsam zu nehmen». In einer eigens gebildeten Hauptwache sollten die Einlieferung und Arretierung der verhafteten Personen erfolgen. Pro Mann des Detachements gab es ein Mass Wein und ein halbes Brot, zudem zählte der Einsatz als Extra-Frondienst. Major Ruppert kommandierte das Ganze. Ihm unterstand der Hauptteil der Mannschaft im Zentrum. Gemeinderat Hausheer kommandierte den rechten Flügel und Präsident Laubi den linken Flügel des Aufgebots.

Salomon Ruppert war Kirchengutsverwalter, Seckelmeister und «Adjunkt des löbl. Stadtquartiers». Er lebte von 1741 bis 1805 und war der Sohn von J.J. Ruppert, welcher 26 Jahre lang bis 1751 das Amt des Almosenpflegers bekleidet hatte. Sein Sohn Salomon war Major der Infanterie. 1779, im Alter von 38 Jahren, wurde er Untervogt in Wipkingen. Als Kirchengutsverwalter leitete er auch zwei Renovationen am Turm der alten Kirche. Als Infanterist tat er sich in Zürcher Diensten besonders hervor. Ihm wurden Aufgaben anvertraut, die ansonsten nur Stadtbürgern übertragen wurden. Seine guten Dienste in der Wipkinger Gemeindeverwaltung fiel den Stadtbehörden auf. Die Stadt Zürich schenkte ihm das Bürgerrecht, anschliessend war er in den Gerichtsbehörden tätig.

Dieses rabiate Begebnis gegen die Bettler im Herbst 1803 blieb die einzige militärische Massnahme gegen Armut in Wipkingen. Über den Erfolg ist nichts bekannt, Verletzte oder Opfer gab es aber keine. Es war ein Relikt aus einer vergangenen Zeit.

Salomon Ruppert war eine prägende Figur der Gemeinde. Im Jahr nach den Kriegswirren waren die Gemeindefinanzen arg aus dem Lot geraten. Im Rechnungsbericht des Jahres 1800 finden sich Einträge für verzinsliche Darlehen, «an einen guten Freund». Mit «Belohnung und Verköstigung» aus der Gemeindekasse bei Anlässen war man überaus spendabel und mehrere «besondere Dienstleistungen» waren grosszügig vergeben worden. Die Gemeinde setzte eine Rechnungsprüfungskommission unter Salomon Ruppert ein.

Inzwischen war Ruppert zum Distriktsrichter ernannt worden. Seine Kommission hatte den Auftrag, eine strammere Ordnung in das Rechnungswesen zu bringen. Offenbar mit Erfolg, denn die Gemeindeversammlung vom 4. Dezember 1803 verlas den von der Administrationskommission ausgearbeiteten Antrag und der vormalige Seckelmeister Wilpert Abegg dankte ab. An seiner statt wurde Kaspar Laubi gewählt.

Beinahe wäre Major Ruppert in einem Strassennamen verewigt worden. Ein neu angelegter Weg in der Gegend in den Steimeren bei der heutigen Lehenstrasse musste benannt werden. Die Strassenbenennungskommission erwog auch den Namen Ruppertweg, entschied sich aber 1934 einstimmig, den Wipkinger Lokaldichter Brugger zu Ehren kommen zu lassen.

Die alten Institutionen überdauerten

Nur vier Jahre vor der Betteljagd war Zürich 1799 Schauplatz der napoleonischen Kriege. Französische, österreichische und russische Truppen bezogen Stellungen auf dem Käferberg (siehe «Wipkinger Zeitung» im September 2021).
1802 marschierte nochmals eine Armee durch Wipkingen, diesmal die eigene. Die helvetischen Truppen erteilten ihrem General Andermatt den Befehl, in Zürich einzumarschieren. Der Stand Zürich hatte eine starke Abneigung gegen die helvetische Regierung. Diese war von Napoleon installiert worden.

Als sich Zürich weigerte, helvetische Truppen einzuquartieren, stationierte General Andermatt am 13. September 1802 Kanonen auf dem Zürichberg und beschoss die Stadt einen Tag und eine Nacht lang. Es kam zu einer Konvention und Andermatt rückte ab, über Guggach und Waid nach Baden.

Gewalttätige und kriegerische Ereignisse wie diese bleiben haften. Beinahe vergessen sind die demokratischen Institutionen in den Schweizer Gemeinden nach der Helvetik. So nennt man die Zeit der République Helvétique, jenem 1798 von Napoleon installierten zentralisierten Staatsgebilde beruhend auf den Idealen der Französischen Revolution. Der Widerstand war gross. Nach dem Abzug der napoleonischen Truppen erfolgten verschiedene Widerstandsphasen; die Geschichtsschreibung nennt sie Mediation, Restauration und Regeneration. Napoleon Bonaparte beantwortete den Widerstand nicht nur militärisch, sondern auch mit der Mediationsakte, einer Art Zwischenverfassung, die den Kantonen grosse Teile der Souveränität wieder zurückgab. Der Sturz Napoleons leitete die Restauration ein.

Wipkingen, in dieser Zeit eine landwirtschaftlich geprägte Siedlung mit starker Industrie, blieb in den kriegerischen Zeiten widerspenstig. Eine ganze Reihe von alten demokratischen Institutionen, die es ausserhalb der Schweiz nirgends in Europa gab, zeugen davon.

Abgestufte Niederlassungs- und Stimmrechte


Am 24. März 1804 waren die Wipkinger Bürger zur Huldigung gegenüber der Obrigkeit nach Höngg einberufen. Nach Beendigung einer Gemeindeversammlung fand der Gemeindetrunk in Wipkingen statt. Vom Umtrunk waren die Beisässen (Niedergelassenen) entlassen. Diese hatten allerdings ein gewisses Stimmrecht in den Versammlungen, aber am Gemeindetrunk durften sie nicht teilnehmen.

Die Niederlassungsfreiheit war gewährleistet, aber an harte Bedingungen geknüpft. Es gab «Hintersässen-Gelder», welche Zugezogene in die Gemeindekasse zu zahlen hatten. Für Eingeheiratete gab es den «Weiberkronen», eine Abgabe für zugezogene Ehepartner in der Höhe von 1 Krone.

Auch das «Ansässengeld» war von der Gemeindeversammlung geregelt. Ansässen (Zugezogene) mit Grundeigentum mussten 10, ohne Grundeigentum 6 und Einzelpersonen 2 alte Franken bezahlen. Die Ansässen waren frondienstpflichtig, mussten aber keine Armensteuer bezahlen. Ein «Braut- und Bechergeld», also eine Einheiratungs-Gebühr, betrug für Kantonsbürger 10 alte Franken, für Schweizer Bürger 20 und für «Landesfremde» 40 alte Franken.

Man war sparsam bis zur Knausrigkeit: 1828 schaffte die Gemeinde den Abendumtrunk bei Fronarbeiten ab. Alle Männer bis 60 Jahre waren Frondienstpflichtig; mit Ausnahme der «Tischgänger», die stattdessen pro Jahr 30 Heller zu zahlen hatten.

Auch die Einbürgerungen erfolgten basisdemokratisch auf Gemeindeebene. Am 4. Oktober 1804 nahm Wipkingen Heinrich Schäppi in die Bürgerschaft auf. Seine Einkaufsgebühr betrug 200 Gulden, bezahlen musste er 175 Gulden, da sich Schäppi um die Gemeinde sehr verdient gemacht hatte. Er war schon längere Zeit in der Gemeinde tätig. Als Auswärtiger konnte er nicht mitwirken, daher zog man ihn als kundigen Ratgeber bei. Heinrich Schäppi wurde Gemeindeamman und später in den Regierungsrat des Kantons Zürich gewählt.

Eine ganze Reihe von Zuzügern wurde 1835 ins Bürgerrecht aufgenommen, so beispielsweise der erste Rektor der Universität, Lorenz Oken, Namensgeber der Okenstrasse, wo damals sein Landsitz stand. Dem Naturforscher und Naturphilosoph schenkte die Gemeinde das Bürgerrecht. Anderen bedeutenden Gelehrten wie Karl Heinz Gräffe aus Braunschweig, Professor für höhere Mathematik, wurde das Bürgerrecht geschenkt. Die Industriellen Friedrich Kornetz, Tochtermann von J. Hofmeister im Letten, oder Heinrich Studer, ein feuriger Vertreter der Radikalen und weitere wurden als Verdankung der Leistung ins Bürgerrecht aufgenommen, so etwa auch Pfarrer Konrad Bleuler.

Wesentlich ist der Umstand, dass die Gemeindeversammlung diese Kompetenz besass. Es gab auch abgelehnte Gesuche. In dieser Zeit, 1836, lebten in Wipkingen 959 Seelen, davon 462 in Wipkingen-Dorf und 163 im Letten.
Es gab abgestufte Stimmrechte für Zugezogene, beispielsweise konnten auswärtige Grundbesitzer über Grundbesitz-Fragen und geplante Bauprojekte abstimmen. Auch Gegenleistung wurde verlangt: Gemäss einem Gemeindebeschluss vom 24. Oktober 1813 hatte jeder, der sich in die Gemeinde einkaufte, auf der Allmend einen Baum zu setzen.

Das verlorene Frauenstimmrecht

Viele Institutionen, insbesondere die Gemeindeautonomie und direktdemokratische Elemente auf Gemeinde- und Vereinsebenen, überdauerten die kriegerische Zeit. Eines ging komplett verloren: das Frauenstimmrecht. Wipkinger Frauen hatten Ende des 18. Jahrhunderts Stimmrecht in verschiedenen Vereinigungen und in der «Weibergemeinde». Frauen hatten Mitspracherechte und Entscheidungskompetenzen in der Krankenpflege oder auch in landwirtschaftlichen Gremien und Korporationen, wo Witwen das Stimmrecht der verstorbenen Männer ausüben konnten.

Die Weibergemeinde von 1794 – also vor dem Einmarsch der napoleonischen Truppen – wählte Adelheid Burkhart zur Spett-Hebamme. Die Versammlung beschloss, der bisherigen Hebamme, die aus Altersgründen ihr Amt nicht mehr richtig ausführen konnte, eine Rente zu finanzieren. Alle Frauen, welche die Dienste der neuen Geburtshelferin in Anspruch nahmen, mussten der alten Hebamme eine Gebühr von 1 Gulden bezahlen.

Zehn Jahre später, 1804, wollte die Weibergemeinde Adelheid Burkhart zur Gemeindehebamme wählen. Der Stillstand (der Vorläufer der Kirchenpflege) verhinderte diese Wahl durch das Frauengremium und begründete dies mit dem kuriosen Argument, eine Geburtshilfe sei als ein «Kunststück» zu betrachten, über welches die Weibergemeinde nicht befinden könne. Adelheid Burkhard wurde als Hebamme eingesetzt, aber die Versammlungsfreiheit und das Stimmrecht war für die Weibergemeinde verloren und die Institution wurde abgeschafft.

Bürger, nicht Untertanen

Die Schweiz war Anfang des 19. Jahrhunderts umgeben von Obrigkeitsstaaten. Preussen verlangte nach dem Sturz Napoleons den Anschluss der Schweiz. Ziel war ein Königreich Helvetien mit dem Grossherzog von Baden (DE) als Kronenträger. Eine andere Forderung hätte das Königshaus Württemberg zum Haupt der Schweizer Monarchie gemacht. Die regenerierten Kantone waren indes Kleinrepubliken mit ausgebauter Demokratie, Presse- und Redefreiheit. Es gab massive Spannungen; die Schweiz galt als Auffangbecken für Revolutionäre und Umstürzler. Fürst Metternich bezeichnete die Schweiz als «befestigte Kloake», die gesäubert werden solle.

Gemeindeautonomie, eigenständige Festlegung der Steuern, Zahlung der Steuern an die eigene Gemeinde, direktdemokratische Elemente betreffend Sachfragen, Autonomie betreffend Einbürgerungen – solche Elemente gab es in den umliegenden Königs- und Kaiserreichen nicht. Die Einwohner Deutschlands hiessen offiziell «Untertanen». Davon waren die Bürgerinnen und Bürger Wipkingens weit entfernt.

Die Beispiele sollen zeigen, dass die moderne Schweiz nicht 1848 in einer verfassunggebenden Versammlung aus dem Nichts entstanden ist, sondern dass hierzulande viele demokratische Institutionen aus der Vorzeit der europäischen Revolutionen die Wirren überstanden hatten und einen Nährboden für eine gedeihliche Entwicklung in sich trugen.

Quellen

Martin Bürlimann, Kurt Gammeter: «Damals», Wibichinga Verlag, 2023.

Conrad Escher, Rudolf Wachter: Chronik der Gemeinde Wipkingen, Institut Orell Füssli, Zürich 1917.

Diverse Literatur zur Helvetik, Mediation und Regeneration.

1 Kommentare


Timo

4. Januar 2024  —  17:29 Uhr

Vielen Dank für diesen spannenden geschichtlichen Einblick!

Themen entdecken