Ein Bergbub im Dorf Wipkingen

Der Röschibachplatz hat sich zum Dorfplatz Wipkingens gemausert. Rundum treffen sich Leute aller Couleur und jeden Alters. Der Installations- Künstler Andrea Clavadetscher ist einer davon.

Andrea Clavadetscher sitzt gerne in der Nordbrücke am Röschibachplatz, wo er immer Bekannte aus dem Quartier trifft.

«So war es früher bei uns im Dorf auch», sagte meine Mutter mir einmal, als wir durch die Quartierstrassen Wipkingens liefen und ich jeden kannte und hier und dort ein paar Worte wechselte. Ich bin in Samedan aufgewachsen, dort ist es jetzt ganz anders, die grossen Detailhändler sind vor den Dorftoren, niemand sagt mehr Grüezi, es ist überwiegend anonym. Meine Mutter war eine der ersten SAC-Hüttenwärterinnen, auf der Coaz-Hütte im Engadin. Dort verbrachten wir jeweils die Sommermonate von März bis September. Ich habe es geliebt, den ganzen Tag draussen in der Natur zu sein, mit den Tieren, und auch das Helfen drinnen, mein Ämtli war der Postkartenverkauf. Mein Vater war Bergführer, er war meist unterwegs und mein grosses Vorbild. Es kamen immer wieder spannende Persönlichkeiten hoch zur Hütte, die mit meinem Vater loszogen. Als ich 13 oder 14 war, war der italienische Künstler Francesco Clemente unser Gast. Er blieb mehrere Wochen und steckte mich mit seiner Leidenschaft für die Kunst an. Er legte wohl den Grundstein für meinen künstlerischen Weg. Ab da malte ich nur noch. Nach der obligatorischen Schulzeit machte ich mit 17 die Aufnahmeprüfungen an den Kunsthochschulen Basel und Zürich, erhielt von beiden die Zusage und entschied mich für letztere. Schnell musste ich allerdings feststellen, dass die Kunstszene in Zürich damals noch sehr zwinglianisch-konservativ unterwegs war, ich fühlte mich eingeengt und brach nach zwei Semestern das Studium ab. Ich kündigte meine Wohnung und begab mich auf Reisen. Zusammen mit meiner damaligen Freundin erkundeten wir die Mittelmeerländer, verbrachten längere Zeit in Marokko. Geld verdienten wir durch verschiedene Tätigkeiten: Ich habe bei Bauern gearbeitet, gestrichen, gezimmert, überall angepackt. Zurück in der Schweiz widmete ich mich wieder ganz der Kunst: Martin Hodel, Eric Schumacher und ich starteten als Künstlertrio Anfang der 90er-Jahre eine internationale Karriere mit Ausstellungen und Projekten in Wien, Hamburg, Berlin und Paris. Wir benutzten die unterschiedlichsten
Materialien und Medien. Leider kam Martin 1995 bei einer Skitour ums Leben, er fiel in eine Gletscherspalte, und das mit nur knapp 30 Jahren. Das gab meiner Kunstlaufbahn einen traurigen Knick. Ich brauchte Abstand und versuchte mich als Koch. Ich liebe das Kochen und tue es immer noch regelmässig. Am liebsten mit frischem, selbst angebautem Gemüse von unserem Genossenschaft-Acker Ortoloco in Dietikon. Ich heuerte damals beim Hort unseres «Chindsgis» an. Das Essen wäre dort immer so schlecht, beschwerten sich meine Kinder, so kam ich auf die Idee. Ich kaufte jeweils alle Zutaten frisch ein und gab dem Menü neuen Schwung. Ein Vater wurde eines Tages auf mich aufmerksam und fragte mich für einen Catering-Anlass für seine Firma an. Es wurde ein feucht-fröhlicher Abend und nach einigen Flaschen Wein  kam zu meinem nächsten Job: Die Firma suchte einen Programmierer und fragte, ob ich das zufällig könne. Ich hatte noch nie in meinem Leben programmiert. Aber ich brauchte das Geld, ich hatte zwei Kinder, war frisch getrennt, die Kinder lebten die Hälfte der Woche bei mir und ich kämpfte ums finanzielle Überleben. Das setzt Energie frei. Also kaufte ich mir einen Stapel Bücher und eignete mir die grundlegenden Programmierkenntnisse an. Nach drei Wochen fing ich an in der Firma und stieg dort schnell auf. Ich bin ein absoluter Autodidakt, bringe mir alles selbst bei, vor allem über das Visuelle. Irgendwann aber wollte ich mich wieder ganz meiner Kunst-Leidenschaft widmen. Ich kündigte und begann zusammen mit meiner Partnerin einen Film über meinen verstorbenen Freund Martin zu produzieren. Als der Film fertig war, war meine Partnerin schwanger. Heute ist sie meine Frau und wir leben gemeinsam mit unserem elfjährigen Sohn an der Nordstrasse.
Ein Nachtessen bei einer Schulkollegin aus Samedan führte mich vor neunzehn Jahren zu dieser Wohnung, dafür bin ich ihr sehr dankbar. Gleich angrenzend befindet sich mein Atelier, dazwischen haben wir einen kleinen Garten, in dem wir in der Corona-Zeit jeden Freitagabend mit der Hausgemeinschaft ein Feuer machten, einfach um regelmässig ein wenig Gesellschaft zu haben – ich bin ein sehr geselliger Mensch und fühle mich wohl unter Leuten. Dem Film folgten unzählige weitere künstlerische Projekte: Fotografien, Musik, Bilder, Videoproduktionen. Ein Grossteil meiner Arbeit widme ich der Kunst am Bau. Gerade habe ich zusammen mit Eric, der nach wie vor mein künstlerischer Partner ist, mit unserem Projekt «Rauchring» eine Ausschreibung an der Kantonsschule Wetzikon gewonnen. Die Umsetzung wird uns jetzt die nächsten Monate noch beschäftigen. Umtreiben tut uns auch noch unser Corona-Projekt der sechshundert Blätter: Eric und ich haben uns im ersten Lockdown sechshundert weisse Blätter in der Grösse 70 mal 100 Zentimeter angeschafft und diese jeweils angefangen zu bemalen, dann dem anderen zugeschickt und der hat dann weitergemacht und so weiter. Es ist schön zu sehen, was den anderen jeweils gerade beschäftigt hat. Und wir hatten etwas zu tun in dieser Zeit der geschlossenen Galerien und fehlenden Ausstellungen.

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