Damals
Ein Volkshaus, das keines sein wollte
Das Kirchgemeindehaus Wipkingen, das ein «Haus der Diakonie» werden soll, hat eine bewegte Entstehungsgeschichte. Das stolze Gebäude wurde vielfach kritisiert, bis es ein Hort der geistigen Landesverteidigung wurde. Mit grosser Bildergalerie.
27. Juni 2024 — Martin Bürlimann
Das Projekt warf Wellen bis in die katholischen Lande. «Volkshaus oder Kirchgemeindehaus?», fragten die «Fribourger Nachrichten»: «Ein seltsames Kirchgemeindehaus ist in einem sozialistischen Quartier von Grosszürich im Werden: Dieses Kirchgemeindehaus soll neben Versammlungssälen auch Turn- und Spielräume, Post- und Bankfiliale, Quartierbüro, Kindergarten, Kinderkrippe, öffentliche Badanstalt, alkoholfreie Wirtschaft und weiss der Himmel was noch enthalten!»
Die Fribourger Katholiken hatten auch eine Erklärung: «Das Rätsel über diesen Bazarbau ist bald gelöst: Die Kirchgemeinde Wipkingen ist eine sozialistisch regierte Kirchgemeinde.»
Was nicht ganz falsch war. Die Politik im Wipkingen der 1920er-Jahre war abgesteckt: Der Männerchor, die Vereine und die Gemeinnützige Gesellschaft Wipkingen (GGW) waren bürgerlich, die Kirchgemeinde war rot. Tonangebend in der Kirchgemeinde waren die Religiös-Sozialen, eine christlich-soziale Bewegung. Als Pfarrer amtete Ernst Altwegg. Die Religiös-Sozialen engagierten sich im Namen der Kirche auch politisch, was in Wipkingen Stirnrunzeln auslöste. «Richtlinien für eine Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens auf christlicher Grundlage», hiess eine schmale Schrift, welche die Kirchenpflege 1919 publizierte.
Die Forderungen waren durchwegs auf der Linie der Religiös-Sozialen. Sie waren tief-rot: Abbau des herrschenden Wirtschaftssystems, Recht auf Arbeit und Arbeitspflicht für alle, Aufhebung jedwedes arbeitslosen Einkommens, Abschaffung des Militärs und vollständige Abrüstung, fortschreitende Kommunalisierung von Grund und Boden und Abschaffung des Kapitalzinses.
Die Gemeinde soll zusammenfinden
«Soll das Kirchgemeindehaus ein allgemeines Volkshaus sein?», fragte die «Neue Zürcher Zeitung» erstaunt. Die Pläne mit der Bank- und Postfiliale, dem Volksbad oder der alkoholfreien Wirtschaft entsprachen dem Ideal der Religiös-Sozialen, sie kamen aber nicht überall gut an. Pfarrer Altwegg bemühte sich, den Terminus «Volkshaus» zu streichen. Ihm oblag es, bei den Mitgliedern die Begeisterung zu wecken: «Unser zukünftiges Kirchgemeindehaus», so war der Vortrag betitelt, den Altwegg am 13. März 1927 in der Kirche Wipkingen hielt.
Er beschrieb die Raumnot und den Wunsch der Gemeinde nach einem gemeinsamen Haus mit grossem Saal, Restaurant, Kinderlehrlokal, Pestalozzi-Stube inklusive Post und Bank. Altwegg umriss begeisternd den Bau, wie er aussehen solle, wo er zu stehen käme und wie die Gemeinde dort zusammenfände.
Er verwies auf die anstehende Volksabstimmung: Jeder Mann müsse an die Urne gebracht werden, man müsse Freunde, Bekannte, Verwandte für ein Ja begeistern, und es müsse der Abstimmung auch eine lebhafte Agitation in den andern Stadtkreisen vorausgehen. «Wenn wir darin irgendetwas versäumen und in der Abstimmung unterliegen, dann ist die Hoffnung auf ein Kirchgemeindehaus auf Jahre begraben», schloss Altwegg seine fulminante Ansprache.
Den Anfang hatte das Projekt fünf Jahre zuvor genommen: Die Kirchgemeindeversammlung vom Sonntag, 5. November 1922, 10.15 Uhr, war so gut besucht wie nie. 262 Stimmberechtigte füllten die Kirche, die nicht stimmberechtigten Jung-Wipkinger besetzten die Empore, ein Orgelspiel eröffnete die Versammlung und der Männerchor gab ein kurzes Gesangsspiel. Als Gast war Stadtbaumeister Herter geladen. Wichtigste Traktanden waren der Bau des Kirchgemeindehauses, das Raumprogramm und die Wahl des Bauplatzes.
Als Erstes stimmte man darüber ab, ob die Quartierbedürfnisse ins Raumprogramm aufgenommen werden sollten, was 243 Ja-Stimmen ohne Nein-Stimmen ergab, worauf Präsident Billeter dem anwesenden Stadtbaumeister Herter das Wort zur Standortfrage erteilte. Neun Bauplätze wurden der Kirchenpflege angeboten, wovon einzig die der Stadt Zürich gehörende Parzelle 1296 an der Röschibachstrasse oberhalb des Kehlhofs den Anforderungen genüge.
Es folgte eine längere Erläuterung von Präsident Billeter zur Frage, ob der Kehlhof stehen gelassen werden könne und was mit der Krippe geschehen solle. Die GGW (der heutige Quartierverein) und der Frauenverein, der die Krippe leitete, waren skeptisch.
Trickreicher Abstimmungskampf
Der Streit um die Krippe zog sich über Jahre dahin. Als Standort für ein neues Kirchgemeindehaus käme exakt und ausschliesslich der Kehlhof zwischen Höngger- und Röschibachstrasse infrage, hatte Stadtbaumeister Herter geschrieben, was die Kirchgemeinde Wipkingen 1922 der GGW mitteilte.
Es folgten jahrelange Rekurse, Einsprachen und Gutachten. Man hatte die kantonale Heimatschutzkommission angerufen, die feststellte, da «das geplante Kirchgemeindehaus ein wichtiges Gebäude sein wird, das ganz der Allgemeinheit dient, würde es sich unter keinen Umständen rechtfertigen lassen, das ästhetisch nicht wertvolle Gebäude (Kehlhof) stehen zu lassen».
Es hiess ausdrücklich, dass der stolze Nussbaum stehen bleiben solle und der Kehlhof nach Möglichkeit ebenso. Der Stadtrat überliess der Kirchgemeinde den Bauplatz für 47 000 Franken. Um 12 Uhr 20 war die Sitzung beendet und das Projekt unter Dach. Dann ging es voran; mit seiner fulminanten Rede 1927 rief Pfarrer Altwegg die Stimmbürger an die Urne.
Der Abstimmungskampf war professionell durchorganisiert: Mit «Vereine und Gesellschaften von Wipkingen» war ein Flugblatt unterzeichnet. Eine Steuererhöhung sei nicht nötig, da die Baukosten von 2,28 Millionen Franken durch sichere Zinseinnahmen und durch den städtischen Beitrag gedeckt seien. «Die Kirchensteuer muss nicht erhöht werden!», hiess es im Flugblatt.
Es wurde gebaut. Am Samstag, 23. Januar 1932, war das neue Kirchgemeindehaus zur öffentlichen Besichtigung geöffnet und am Sonntag fand in der reformierten Kirche ein Festgottesdienst zur Einweihung statt. Der Kirchenchor sang, nicht der Männerchor.
Überdimensioniert und unbeliebt
Bald zeigte sich, dass das Haus zu gross geraten war. Es begann recht vielversprechend mit Anlässen, Gesangsauftritten des Männerchors und geselligen Veranstaltungen, aber die Vereine beklagten ihre Räumlichkeiten als unpraktisch, insbesondere der Samariterverein und die Betreiber des Krankenmobilienmagazins äusserten Unmut.
Für den Konfirmandenunterricht gab es schlicht zu wenig Kinder, um die Unterweisungszimmer auch nur halb zu füllen. Die strikte Hausordnung trug ihren Teil dazu bei, dass das Haus nicht recht in Schwung kommen wollte.
Die Verärgerung im Volk über die Nutzungsbestimmungen des Saals im Kirchgemeindehaus überdauerte die Jahrzehnte. Die Hausordnung erlaubte das Rauchen nur in den Sitzungszimmern. «Sämtliche Anlässe, Veranstaltungen sowie auch Proben usw. müssen abends, 10 Uhr, geschlossen werden», verlangte das Reglement.
Die Vereine und insbesondere die GGW beklagten diese Betriebsordnung regelmässig; und irgendwann platzte der GGW der Kragen. Im Jahresbericht 1946 stand Klartext: «Diese beiden Bestimmungen verwehrten von allem Anfang an unseren Organisationen die Benützung der schönen und geräumigen Lokalitäten des Kirchgemeindehauses.»
Die Kirchenpflege hatte sich komplett verrannt. Das gesamte Quartier, alle Parteien, alle Vereine, Männerchor, Baugenossenschaften und die GGW stemmten sich gegen die Kirchenpflege und verlangten eine realistische Hausordnung – ohne das geringste Einlenken. Das Alkoholverbot blieb aufrecht, weshalb es kaum gesellige Veranstaltungen im Saal gab. Nach einigen Tanzabenden des Arbeitervereins Satus und der Turnvereine blieb der Saal wieder unbenutzt.
Die «Wipkingertagungen»
Das Volkshaus, das keines sein wollte, mutierte dann zu einem Hort des Widerstandes. Karl Barth ist ein Kirchenvater des 20. Jahrhunderts. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 veränderte sein Leben. Karl Barth verlor wegen seiner Schriften die Professur in Göttingen, und als er das Schweigen der Christen angesichts des Unrechtsregimes anprangerte, musste er 1935 in die Schweiz ziehen.
Er rief bereits 1938 zum bewaffneten Widerstand gegen die braune Diktatur auf und verlangte von der evangelischen Kirche klare Bekenntnisse gegen die Tyrannei. Im gleichen Jahr liess er sich in der Schweizer Armee zum Soldaten ausbilden. Seine Vorträge und Auftritte fanden starke Beachtung.
Ein wichtiger Teil dieser Tätigkeiten fand im Kirchgemeindehaus Wipkingen statt. Diese hatten eine so starke Ausstrahlung, dass sie weithin «Wipkingertagungen» genannt wurden. Die Versammlungen in Wipkingen begründeten eine christliche Legitimation des bewaffneten Widerstandes, sie bezogen scharf Stellung gegen die bundesrätlichen Zensurmassnahmen und lehnten Rückschaffung von Flüchtlingen ab.
Es ging um theologische und kirchliche Fragen; tatsächlich aber war das Kirchgemeindehaus Wipkingen in den Kriegsjahren ein Hort der geistigen Landesverteidigung.
Artikel / Quellen:
Martin Bürlimann, Kurt Gammeter: «Damals», Wibichinga Verlag, 2024.
Ernst Altwegg, «Unser zukünftiges Kirchgemeindehaus», Vortrag vom 13. März 1927, in der reformierten Kirche Wipkingen.
Ref. Kirchenpflege Wipkingen (Hrsg.): «Richtlinien für eine Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens auf christlicher Grundlage», Zürich-Wipkingen 1919.
Bildergalerie
Zusammengestellt von Martin Bürlimann und Kurt Gammeter, Autoren von «Damals: Wipkingen – Ein Bilderbogen»
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