Flüchtlinge und «humanitäre Tradition»

Nicht selten wird in Vorstössen im Kantonsrat zum Thema Asyl die «humanitäre Tradition» der Schweiz zitiert. Sie reiche zurück bis ins 16. und 17. Jahrhundert, als Glaubensflüchtlinge aus Italien und Frankreich bei uns Schutz suchten.

In sogenannten Stillstandsprotokollen aus jener Zeit lässt sich nachlesen, wie die Zürcher Gemeinden vor über 300 Jahren mit Flüchtlingen umgingen. Die transkribierten Protokolle stehen neuerdings im Staatsarchiv vollständig online zur Verfügung. Der Stillstand, die Aufsichtsbehörde der Kirche, war zugleich Armen- und Vormundschaftsbehörde. Der Name rührt daher, dass das Gremium nach dem Gottesdienst in der Kirche «stillstand», um unter dem Vorsitz des Pfarrers die Geschäfte zu beraten. Die Protokolle widerspiegeln den Alltag im Gebiet des damaligen Stadtstaats Zürich.
Vieles, was in den Protokollen nachzulesen ist, ist uns vertraut: Flüchtlinge werden auf Gemeinden verteilt, und Obrigkeit und Gemeinde teilen sich nach bestimmten Schlüsseln in die Kosten. Interessant sei, sagt der Historiker, dass immer, wenn es in den Protokollen um Flüchtlinge gehe, sogleich die Ausgaben beziffert würden. Da heisst es zum Beispiel: «Disere exulanten hatten zu nacht vor wienacht zu Goßauw im wirtshauß auß uns[er] gn[ädig] herren kosten jeder verzehrt 6 ß [Schilling] und warend 17 persohnen.» Oft bleiben die Flüchtlinge nur über den Winter und ziehen dann gegen den Sommer weiter – nach Deutschland.
In der Schweiz eintreffende Flüchtlinge werden im 17. Jahrhundert nicht einfach «humanitär» betreut, sondern auch als (finanzielle) Belastung wahrgenommen. Das gilt genauso für das 19. Jahrhundert, als Revolutionäre vor repressiven Monarchien in die republikanische Schweiz flüchten, oder für das 20. Jahrhundert, wo die Zurückweisung von jüdischen Flüchtlingen an den Grenzen das düsterste Kapitel der schweizerischen Flüchtlingspolitik bildet.

Und heute?

Zwei Beispiele: Vorläufig aufgenommene Flüchtlinge werden, sobald sie eine Arbeit gefunden haben, kräftig zur Kasse gebeten: Während zehn Jahren werden bis zu zehn Prozent vom Lohn abgezogen und dem Staat zurück überwiesen. Diese Zahlungen werden zur Deckung der Kosten verwendet, die sie oder ihre Angehörigen verursacht haben. Damit müssen ausgerechnet jene Personen, die zu Recht in der Schweiz um Schutz ersucht haben, hohe Abgaben bezahlen – eine Besonderheit im Asylgesetz, denn in anderen Verwaltungsverfahren sind solche Abgaben nicht vorgesehen. Fluggesellschaften müssen alle Vorkehrungen treffen, damit sie nur Personen befördern, die über die nötigen Reisedokumente verfügen. Die Transportunternehmen tragen das Risiko, dass eine Person kein Asyl erhält, denn dann müssen sie die Kosten für den Aufenthalt während sechs Monaten bezahlen.
Etwas mehr Grosszügigkeit tut Not – Tradition hin oder her.

Esther Straub, SP, Kantonsrätin

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