«Häsch mer foif Stutz für d‘Notschlafstell?»

Eine Übernachtung in der Notschlafstelle kostet fünf Franken. Es handelt sich hierbei um einen symbolischen Preis, tatsächlich kostet eine Übernachtung die Stadt 146 Franken. Dafür muss in Zürich niemand unfreiwillig im Freien schlafen.

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Für Fünf Franken kriegt man zum Bett für die Nacht Beutelsuppe mit Brot am Abend und ein Frühstück.»
Eveline Schnepf mit einem Kunden.
Auch in der Notschlafstelle werden die Betten gemacht.
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Es begann 1976 und dauerte bis in die Neunzigerjahre: Die Drogenszene am Platzspitz und im Letten führte dazu, dass es den meisten Leuten nicht mehr sicher schien, von Wipkingen der Limmat entlang Richtung Stadt zu spazieren. Aids und Heroin waren damals auf den Strassen des Quartiers unübersehbare, reale Schrecken, erinnert sich der damalige Millieuarzt Dr. André Seidenberg. Er sieht die erfolgreiche Entwicklung als ein Verdienst der Zivilgesellschaft und des Entscheids der Schweiz, insbesondere aber der Stadt Zürich zu einer liberalen Politik. «Mutig wollten wir realen grossen Gefahren nicht durch Ausschluss oder gar Vernichtung von Menschen begegnen, sondern durch Aufnahme dieser damals am Rande der Gesellschaft lebenden Drogensüchtigen und Obdachlosen», sagt Seidenberg. Konkret geht es um den Antrag des Stadtrats: «Sozialhilfe an Suchtmittelabhängige, psychisch Behinderte und sozial Auffällige in Not» aus dem Jahr 1990. Auf nationaler Ebene wurde die Vier-Säulen-Strategie eingeführt, womit der Drogenproblematik zukünftig nicht mehr nur mit Repression begegnet wurde, sondern neu auch mit Therapie, Prävention und Schadensminderung.

Zürichs Kampf gegen die Obdachlosigkeit

Ein essentieller Teil der Säule «Schadensminderung» war die Gründung von Kontakt- und Anlaufstellen, die die Süchtigen aufsuchen konnten, um sich in geschützter Umgebung Drogen zuzuführen. Zusätzlich wurden, als flankierende Massnahme, insgesamt fünf städtische Notschlafstellen mit 210 Schlafplätzen geschaffen. Von diesen fünf Notschlafstellen ist heute mittlerweile nur noch eine in Betrieb, an der Rosengartenstrasse 30, mitten im Kreis 10. 52 Schlafplätze bietet sie, ist unterteilt in «Frauenstock», Raucher- sowie Nichtraucherzimmer und beinhaltet «Konsumzimmer», in denen der Konsum von harten Drogen toleriert wird. Bei den Zimmern handelt sich um Sechs- oder Vier-Bett-Zimmer und einen Aufenthaltsraum. Am Abend gibt es Beutelsuppe mit Brot und am Morgen ein Frühstück, kostenlos. Die Öffnungszeiten sind von 21 Uhr bis um 10 Uhr morgens, im Winter öffnet die Notschlafstelle bereits um 20 Uhr. Frau Eveline Schnepf ist Leiterin dieses Nachtasyls, das die existenzielle Not lindern soll. Dabei ist die Notschlafstelle als niederschwelligste Einrichtung der Brückenkopf eines ausgeklügelten Hilfesystems der städtischen Wohnintegration. Von hier aus kann Anschluss in eine andere, dauerhaftere Wohnlösung gesucht werden, sofern die Klientinnen und Klienten nicht selber wieder unterkommen. Das Ziel der städtischen Wohnintegration: der Obdachlosigkeit in der Stadt entgegenzuarbeiten. Diese ist die letzte Stufe eines Desintegrationsprozesses, der im Allgemeinen sehr langsam abläuft und keineswegs aus heiterem Himmel kommt. Erst, wenn jemand seine Wohnung verloren hat und bei Freunden und Verwandten oder in der Billigpension rausfliegt, ist er per Definition tatsächlich obdach- oder wohnungslos. Auch Menschen, die Gefahr laufen, wohnungslos zu werden, stehen die städtischen Wohnintegrationsangebote offen. Bedingung ist aber, dass sie Betreuungsbedarf im Bereich Wohnen aufweisen. Ziel dieser Angebote ist es, den Leuten wieder ein selbstständiges Leben in einer eigenen Wohnung zu ermöglichen.

Der Anschluss ans Hilfesystem

Dies läuft eigentlich ganz einfach ab: Eine mittellose, erwachsene Person mit fürsorgerechtlichem Wohnsitz in der Stadt Zürich darf in der Notschlafstelle bis zu vier Monate lang nächtigen, muss das Haus aber tagsüber verlassen. Eine Person ohne Unterstützungswohnsitz, zum Beispiel auch Wanderarbeiter, haben in der Stadt kein Recht auf Übernachtung. Sie werden aber in ausgewiesenen Notlagen für eine Nacht aufgenommen und am nächsten Tag an ihre Heimatgemeinde oder an die Zentrale Abklärungs- und Vermittlungsstelle (ZAV) verwiesen. Für die restlichen eröffnet sich die Möglichkeit, in Notwohnungen für Familien (170 Plätze), der Nachtpension (17 Plätze, für Langzeitaufenthalter in der Notschlafstelle) oder einem begleiteten oder betreuten Wohnen unterzukommen. Das begleitete Wohnen umfasst 350 Appartementzimmer über die ganze Stadt verteilt. Ist jemand zu krank für das begleitete Wohnen oder braucht mehr Betreuung, ist das «Betreute Wohnen City» eine Option. Dabei handelt es sich um ein Heim mit kantonaler Heimbewilligung. Es richtet sich an gesundheitlich und psychisch stark beeinträchtigte Personen. Werden Familien obdachlos, gibt es auch für sie Notwohnungen und Familienherbergen. Ein Zimmer in der Familienherberge ist binnen 24 Stunden beziehbar und bildet sozusagen das Pendant zur Notschlafstelle, ausgerichtet auf Familien mit Kindern. Zu besagten Angeboten, darunter auch Wohnungen, die die Stadt auf dem freien Markt mietet, kommt man über die Anmelde- und Abklärungsstelle an der Strassburgstrasse 5, nicht zu verwechseln mit der ZAV, die sich im gleichen Gebäude befindet. Hier wird in einem Gespräch eruiert, was der Klient benötigt. Das System wurde in den letzten 25 Jahren aufgebaut und immer wieder angepasst.

Keine Zunahme der Problematik

Mit dem Erlauben des Drogenkonsums an Orten wie der «Schlyfi» hat die Stadt zusätzlich erreicht, dass die Drogensüchtigen von den Innenhöfen und öffentlichen Plätzen des Stadtbilds verschwunden und somit kaum mehr sichtbar sind. Der Konsum ist hier toleriert und es werden saubere Nadeln abgegeben sowie Container zur Entsorgung von Konsumabfällen bereitgestellt, seinen Stoff muss jeder selber auftreiben und mitbringen. In der Notschlafstelle herrscht die Regel «No Deals». Mitte November bis Mitte April, über den Winter, garantiert zusätzlich der Pfuusbus der Pfarrer-Sieber-Stiftung Übernachtungen im Warmen, mit 15 Plätzen im Bus, 15 im Zelt, insgesamt ausbaubar auf ebenfalls 52 Plätze. Die Rosengartenstrasse ist jedoch die einzige Notschlafstelle, die das ganze Jahr über offen hat, wenn man die Jugendnotschlafstelle «Nemo» der Sozialwerke Sieber nicht dazurechnet. Die Belegung der Notschlafstelle schwankt zwischen 30 und 60 Personen pro Nacht, wobei 30 eher die Regel sind und 60 die klare Ausnahme. Im letzten Jahr hatte die «Schlyfi» 11’700 Übernachtungen aufzuweisen, von 572 Personen. Dass im Winter mehr Leute anklopfen, sei ein Mythos, so Zwingli. Die Notschlafstelle schrieb im letzten Jahr über Weihnacht/Neujahr die tiefsten Besucherstände. Im Mittel beträgt die Aufenthaltsdauer 20 Nächte, bei einer Bandbreite von einer Nacht bis fünf Monaten. Fehlt der Person Geld, wird sie an die wirtschaftliche Sozialhilfe weitergeleitet, ist sie ohne Wohnung, kann sie sich beim Wohnintegrationssekretariat für ein Wohnintegrationsangebot anmelden. Die Fallzahlen der Notschlafstelle bewegen sich seit Jahren auf einem stabilen Niveau. «Auch wenn das Thema in den Medien häufig aufgegriffen wird: Wir stellen keine Zunahme der Problematik fest», meint Marcel Zwingli von den Sozialen Einrichtungen und Betrieben der Stadt Zürich.
Das Personal der Notschlafstelle, unter der Leitung von Eveline Schnepf, besteht ausschliesslich aus gut ausgebildeten Psychiatriepfleger*innen, Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen, die bei Gefahr gut deeskalieren können. Dazu gehören ebenso das Schlichten und frühzeitiges Intervenieren, damit es nicht zu einer Eskalation kommt. Deeskalation ist wichtig, denn die Klienten der Notschlafstelle – in 75 Prozent der Fälle ältere Männer mit einer psychiatrischen Problematik gekoppelt mit Suchterkrankungen – bringen die verschiedensten Schicksale mit. Da kommen Menschen zusammen mit unterschiedlichen Problematiken, die Medikamente nehmen oder auch nicht, psychotisch sind und/oder suchtmittelabhängig und manchmal einfach gestresst vom Tag. Bisweilen ist es erstaunlich, dass es nicht zu mehr Konflikten kommt. Gute Stimmung und Anspannung wechseln sich ab. «Zeuge von diesen Schicksalen zu werden, ist nicht zu unterschätzen», sagt Frau Schnepf. Sie selber erzählt von heftigen und bleibenden Erinnerungen, in ihren rund 23 Jahren, die sie in der Notschlafstelle arbeitet. Gewalt und auch Todesfälle hat sie schon erlebt. Das Leben am Rande der Gesellschaft ist für sie kein Fremdwort. Sie hebt hervor, dass es wichtig sei, den Klienten mit Freundlichkeit, Respekt und Empathie zu begegnen, denn es sind Menschen in schwierigen Situationen, die in der Gesellschaft oft Ablehnung erfahren. Nicht allen Benutzern der Notschlafstelle sieht man allerdings an, dass sie in der Notschlafstelle übernachten.

Die Stadt Zürich lehnt sich in ihrer Definition von Obdachlosigkeit übrigens an die europäische Organisation FEANTSA: Als obdachlos gelten Personen, die unfreiwillig ohne Unterkunft sind, keinen festen Schlafplatz haben und deshalb im öffentlichen Raum übernachten. In Zürich gelten ebenfalls Personen als obdachlos, die in Notschlafstellen oder Nachtasylen übernachten. Für die Sozialen Einrichtungen und Betriebe sind Obdachlose keine klar eingrenzbare gesellschaftliche Gruppe, der man «es» ansieht; sondern sie verstehen Obdachlosigkeit als letzte und schwierigste Phase eines Desintegrationsprozesses, der alle Lebensbereiche erfasst.

1 Kommentare


Ruth Hassan-Messer

4. Dezember 2020  —  12:58 Uhr

Es ist respektlos den Obdachlosen und den Passanten gegenüber, dass diese für Fr. 5.00 betteln müssen. Absolut erniedrigend und unnötig.

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