Damals
Hightech im Letten
Das Kraftherz des Kreis 10 schlägt im Letten: im Laufe der Jahrhunderte war hier stets Spitzentechnologie angesiedelt. Das unterschätzte Quartier im Quartier hat eine beeindruckende Technologiegeschichte. Mit Bildergalerie!
12. Dezember 2024 — Martin Bürlimann
Ausserhalb der Stadt durften die Bürger im 18. Jahrhundert keine Manufakturen errichten. Handwerk, Handel und Fabriken waren dem Stadtzürcher Kaufmannspatriziat vorbehalten, das mit komplizierten Zunftvorrechten und Monopolen die Wirtschaft kontrollierte. Mit dem technischen Fortschritt, namentlich der mechanischen Kraftübertragung durch Wasserturbinen, liess sich das Verbot nicht mehr aufrecht halten und 1770 fiel es auch formell. Es entstand eine blühende Industrie am Limmatlauf. Das Herz der Wasserkraft lag im Letten.
Es dauerte nicht lange, bis die Limmat mit ihrem geraden Lauf und idealen Gefälle zur Kraftnutzung erkoren wurde. Das Industriezeitalter begann im Letten 1782. Damals veräusserte die Wipkingerin Anna Maria Hausheer, geborene Fürst, ein Anwesen an Johann Jakob Hofmeister «für 7000 Pfund samt 12 Louisdor Trinkgeld», wie es im Kaufbrief hiess. Das Areal umfasste nebst dem Hauptgebäude Scheune mit Stall und Wiesen, dazu gehörte auch ein Fassungs- und Wässerungsrecht. Die Textilindustrie, in den ländlichen Gebieten der Ostschweiz als Heimwerk etabliert, fand mit der Wasserkraft einen Aufschwung.
Ein Zierbrunnen als Überdruckventil
1783 erhielt Jakob Hofmeister die Bewilligung, den Unterlauf des Kanals 60 Fuss in die Laubiwiese flussaufwärts zu verlegen. In diesem Kanal nutzten seine Ingenieure die mechanische Wasserkraft. Sie bauten einen Kanal zur Wasserentnahme und zur Erzeugung mechanischer Energie. Ein Aquarell von 1790 zeigt eine stolze, mit Wasserkraft betriebene Fabrik und herrschaftliche Fabrikgebäude. Hölzerne Wasserschaufeln und Zahnräder trieben gewaltige Pleuel an, die mannshohe Walken drehten. Am Ufer standen Trockentürme, und auf der Limmat schaukelten die Wasch-Schiffchen. Die Kattunindustrie war damals sehr verbreitet, nicht nur in Wipkingen. Es waren Mischformen zwischen Gerbereien, Färbereien und Tuchdruckereien.
Vor der Kattundruckerei stand im Hofmeisterschen Landpark ein Springbrunnen. 1790 erweiterte Hofmeister seine Tuchdruckerei. Der geschickte Geschäftsmann investierte eine hohe Summe in eine Neuerung: vor dem Fabrikgebäude baute er einen frühklassizistischen Brunnen. Dieser diente nicht nur zur Zier, sondern war Teil der Wasserkraftanlage. Er stand in einem zehn Meter breiten Becken und spie eine fünf Meter hohe Fontäne. Die Düse war direkt an den Kanal angeschlossen. Dem Maschinenmeister zeigte die Höhe der Fontäne den Wasserdruck im Kanal an. Zugleich war der Brunnen das Überdruckventil der Wasserschaufeln im Kanal. Mit einem raffinierten System aus Schiebern und Absperr-planken regulierte der Wassermeister je nach Pegelstand der Limmat den Druck im Kanal. So blieb auch bei Strömungsschwankungen die Drehzahl der Walken konstant.
Mit der Erfindung der Dampfkraft war die mechanische Wasserkraftanlage im Letten nicht mehr konkurrenzfähig. 1867 schlossen die Fabriktore. Der Kanal blieb, aber der Brunnen musste Anfang der 1890er-Jahre beim Bau der Letten-Bahnlinie weichen, weil die Schienen durch den alten Park führten. Den imposanten Brunnen zügelte man zum Landesmuseum.
Pumpwerk Letten: Wasser, Kraft, Strom
Die Wipkinger Brunnengenossen gründeten um 1875 die Wasserversorgungs-Gesellschaft. Sie klärten ab, ob die wachsende Gemeinde vom Käferberg her versorgt werden könne und bauten ein gut funktionierendes Trinkwasser-Versorgungssystem. Es gab einigen Druck auf die damals noch selbstständige Gemeinde Wipkingen. Im Jahr zuvor hatte Zürich den Stadtingenieur Bürkli mit der Ausarbeitung des Projektes für eine zentrale Wasserversorgung beauftragt. Er kam zum Schluss, dass die städtischen Quellen nicht ausreichen. Die Stadt benötigte Wasser und Wasserkraft. Sie kaufte in der Folge sämtliche Wasserrechte vom Bahnhof an Limmatabwärts bis zur Stadtmühle mitsamt den Liegenschaften.
Das wichtigste Zürcher Kraft- und Wasserwerk war im Letten vorgesehen. Das nutzbare Gefälle betrug 3 Meter. Es war von Beginn an bewusst überdimensioniert geplant. Die Stadt Zürich baute ab 1874 das Pump- & Elektrizitätswerk Letten. Es hatte gleich drei Aufgaben: Wasserversorgung, mechanische Energie- und Stromerzeugung.
Die erste Aufgabe war die Trinkwasserversorgung nach dem Plan von Stadtingenieur Bürkli. Das Limmatwasser floss durch eine Filterschicht von 40 bis 50 Zentimeter feinem Sand in die Sammelröhren und den Sammelschacht. Von diesem aus führte eine 60 Zentimeter weite, im Flussbett eingegrabene Betonröhre bis zum neuen Pumpwerk im Letten. Das gereinigte Wasser wurde dann in die Trinkwasser-Reservoire auf dem Zürichberg gepumpt. Der Resiweiher ist heute noch ein beschauliches Plätzchen auf dem Zürichberg. Die nutzbare Wassermenge betrug im Schnitt zwischen 30 und 60 Kubik. Für Sommertage, an denen die Flussmenge auf unter 20 Kubik sank, stand eine Dampfturbine bereit. Auf alten Fotos sieht man die beiden Kamine der Notstrom-Aggregate.
Das Nadelwehr beim Drahtschmidli leitete das Wasser in den Zulaufkanal direkt zum Maschinenhaus. Hier setzten Turbinen die Pumpen in Bewegung. Die Turbinen im Letten erzeugten den nötigen Druck, um das Wasser in die Druckleitungen und in die Reservoire hinauf zu befördern. Neun Pumpensysteme lieferten Druck für 51 000 Kubik Wasser pro Tag. Die benötigte Menge Wasser für die Wasserversorgung belief sich lediglich auf 25 000 Kubik. Die Überkapazität war gewollt, um mechanische Energie zu erzeugen – was zu einer weiteren spektakulären Technologie im Letten führte.
Drahtseil-Transmission: Kraft für den Sihlquai
Die Nutzung der Wasserkraft im Letten blieb erhalten. Mit der überschüssigen Energie kam ein weiteres technisches Meisterstück dazu: die Erzeugung mechanischer Energie. Ab 1876 baute die Stadt ihr wichtigstes Kraftwerk im Letten auf 1900 PS aus. In der Schweiz gab es nur zwei grössere Werke, das der Spinnerei Windisch mit 2500 PS und das Karbidwerk Flums mit 2875 PS. Die Ausnutzung der Wasserkraft erfolgte mit zehn Jonval-Turbinen, die waagrecht im Wasser lagen. Ein Zahnrad-Getriebe übertrug die Kraft auf eine Welle.
Die Transmissionsriemen liefen über den Fluss. Ein gewaltiger Drahtseilzug über die Limmat führte die überschüssige Kraft aus den Turbinen über Limmat und Sihl hinweg. Die 1,2 Kilometer lange Drahtseil-Transmission für das Industriequartier stand am Sihlquai. Eine Reihe von Fabrikationsstätten im Industriegebiet bezog mechanische Energie aus dem Lettenwerk. Es lieferte bis in die 1890er-Jahre mechanische Kraft aus dem Pumpwerk. Die Steinklötze auf der linken Flussseite sind ein Relikt dieser Drahtzüge.
Stromwerk Letten: Bandenergie und Spitzenlast
1892 gründete die Stadt Zürich das Elektrizitätswerk. Die überschüssige Energie im Letten sollte nicht mehr mit der mittlerweile abgenutzten Drahtseil-Transmission genutzt, sondern direkt in Strom umgewandelt werden. Man installierte vier Wechselstrom-Dynamos mit je 200 kW Leistung und 2000 Volt Spannung. Sie wurden durch Zahnradgetriebe an die Hauptwelle des Pumpwerks angeschlossen. Das Staubecken mit 10 000 Kubik Inhalt auf dem Zürichberg diente als Reservoir für Spitzenzeiten-Strom. Mit der Bandenergie in der Nacht wurde das Reservoir gefüllt und in Spitzenzeiten genutzt und ins Netz gespiesen.
Das Kraftwerk Letten war weltweit eines der ersten, das mit Hochdruckturbinen Spitzenstrom herstellte. Mit der Bandenergie in der Nacht füllte das EWZ den Speichersee und über Mittag produzierte die Hochdruckturbine Strom, den man zu gesonderten Tarifen verkaufte. Das Lettenwerk war also bereits 1894 eine Niederdruck-Laufanlage kombiniert mit einem Hochdruck-Stauwerk.
Im Gebäude unterhalb der Seidenwebschule, im heutigen Tanzhaus, war der Beleuchtungsumformer eingerichtet. Die Umformer wandelten den Strom von Dreiphasen- auf Einphasenstrom um. Zwei Tram-Umformer zu 5000 PS versorgten das Hönggertram mit Strom und drei Umformer zu 2‘000 PS wurden für Beleuchtung und Weiteres gebraucht. Als Reserve für Störungen war eine Akku-Batterie mit 3000 Ampèrestunden vorhanden.
Elektrische Transformatorenstation Guggach
Im Guggach, damals zu Wipkingen gehörend, stand ab Ende des 19. Jahrhunderts eine Transformatorenanlage. Die Trafostation wandelte den Strom um aus dem Lettenwerk und von den Albula-Werken, an denen das städtische Elektrizitätswerk beteiligt war. Der Wandler reduzierte die Spannung von 40 000 auf 6000 Volt.
Quellen
H. Bertschi, Das Limmatwerk Letten, in: «Schweizerische Bauzeitung», Band 71, Heft 9, 1953.
Urs Landolf, Die Drahtseil-Transmission des Lettenwerks Zürich, in: «Schweizer Mühlen-Kalender», 2023.
Martin Bürlimann, Kurt Gammeter: «Damals», Wibichinga Verlag, 2024.
0 Kommentare