Quartierleben
«Ich fühlte mich erlöst, als mein Vater starb»
Tina Esther Wagners Start ins Leben war nicht einfach – als Kind sexuell missbraucht, in der Schule als lernunwillig abgestempelt. Heute lebt sie im Alterszentrum «Trotte» in Wipkingen und hat ihre Geschichte zu Papier gebracht. Die Autobiographie wurde jüngst ausgezeichnet. Im Gespräch mit dem «Wipkinger» erzählt die 78-Jährige, was sie antreibt und woraus sie stets Kraft geschöpft hat.
29. Juni 2021 — Majka Mitzel
Eine vife Dame empfängt die Interviewerin im Alterszentrum. Ihre bewegte Geschichte sieht man ihr nicht an, sie strahlt Selbstbewusstsein aus, wirkt positiv gestimmt und aufgeschlossen.
Frau Wagner, man würde Sie nicht in einem Alterszentrum vermuten. Was führt Sie in die «Trotte» in Wipkingen?
Meine Mutter lebte fünfzehn Jahre im vormaligen Seniorenheim. Ich war oft bei ihr und habe mich bei den verschiedensten Projekten hier eingebracht. Als das Alterszentrum neu gebaut wurde, habe ich beschlossen, auch einmal herzuziehen. Im Mai 2019 war es dann soweit. Nicht, weil ich das Heim gegenwärtig brauche, sondern weil ich mich zum jetzigen Zeitpunkt noch sinnvoll einbringen kann. Ich möchte eine Aufgabe haben, aktiv sein und meine Zeit meinen Mitbewohner*innen schenken, wenn sie möchten. Momentan ist das zwar immer noch schwierig wegen Corona, aber es kommen hoffentlich auch wieder bessere Zeiten.
Sie haben viel schlimmere Zeiten erlebt: mit einer schweren Kindheit, geprägt durch sehr frühe massive sexuelle Übergriffe Ihres Vaters. Wie müssen wir uns Ihr damaliges Zuhause vorstellen?
Wir lebten in Seebach in einem beschaulichen Häuschen. Von aussen heile Welt: gestärkte weisse Vorhänge, gepflegter Garten mit vielen Blumen. Hinter den Fassaden war es die Hölle. Mein Vater war immer zu Hause, da er das Büro dort hatte. Er missbrauchte mich seit ich ein halbes Jahr war, ebenso meine beiden Schwestern. Meine Mutter konnte uns nicht schützen, sie war überfordert und konnte sich nie behaupten. Geborgenheit erfuhr ich nie. Dazu kam, dass ich in der Schule, als Legasthenikerin und Linkshänderin gestraft, als dumm und trotzig abgestempelt wurde – heute unvorstellbar, doch früher konnte man mit Kindern, die nicht der Norm entsprachen, nicht umgehen. Als ich neun Jahre war, starb mein Vater an einem Herzschlag, ich fühlte mich riesig erlöst und erleichtert.
Woher haben Sie die Kraft genommen, nicht einzuknicken während Ihrer Kindheit?
Als Kind fand ich immer, ich sei anders, etwas Besonderes. Ich hatte zwar Mühe mit Rechtschreibung und Zahlen, war aber sehr neugierig. Ich habe mich auch nicht einschüchtern lassen, nie um Hilfe gerufen. Ich war vielmehr die stille Kämpferin. Meine Methode war, meinen Vater zu Luft zu machen, alles auszublenden im Kopf – kein Schmerzempfinden zu haben, war lange meine Überlebensstrategie. Meine Mutter hat zum Glück immer an mich geglaubt und nach seinem Tod für uns gekämpft.
Sie haben dann früh Ihren Weg gefunden: Bereits mit vierzehn Jahren arbeiteten Sie als Modezeichnerin, waren Fotomodell für renommierte Modelabels, wieder in der Schweiz 1973 Sekretärin am Flughafen. Was war Ihr Erfolgsrezept?
Ich denke, das habe ich meiner Einstellung zu verdanken, das Leben positiv zu sehen. Ich wollte nie Opfer sein und habe verzeihen können. Gleichzeitig war ich eine Rebellin und habe nie aufgegeben. Ich wollte etwas machen aus meinem Leben, war lernbegierig. Ich habe verrückte Ideen gehabt, bin offen durchs Leben gegangen und habe immer gewusst, ich finde meinen Weg. Widerstände oder «das kann man nicht», gab es nicht in meiner Welt. Jede Erfahrung war irgendwie wertvoll.
Haben Sie zu anderen jemals wieder Vertrauen aufbauen können?
Glücklicherweise, ja. Ich habe dann ja auch geheiratet, zweimal übrigens, und eine wunderbare Tochter bekommen. Sie wurde 1964 in New York geboren, wo ich fast sechs Jahre mit meinem ersten Ehemann lebte, Kunst und Psychologie studierte.
Ihre Autobiographie wurde mit dem jüngsten «Meet-My-Life»-Preis ausgezeichnet. Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Geschichte aufzuschreiben?
Mein bisheriges Leben zu Papier zu bringen, hat mir geholfen, meine Vergangenheit aufzuarbeiten. Aber nicht nur das: Es soll gleichzeitig ein Appell an Eltern sein, ihre Kinder machen zu lassen und sie zu unterstützen, ihren Weg zu finden – jeder Mensch ist anders und jeder hat Begabungen auf irgendeine Art. Und wenn mal etwas nicht klappt, sie aufzumuntern, einen anderen Weg auszuprobieren.
Möchten Sie den Menschen sonst noch etwas mitgeben?
Ich kann allen nur raten, mutig zu sein und Chancen zu nutzen. Trau dich, bleib neugierig und begeisterungsfähig. Überlege, was schon passieren soll, wenn du versagst. Manchmal versagt man zwei-, dreimal, aber gib nie auf. Frag dich, was du ändern könntest, anstatt wer schuld ist. Vergib – es ist Vergangenheit, ab jetzt kannst du dein Leben selber gestalten.
Was packen Sie als nächstes an?
Ich bin hell begeistert von Computern. Ich habe mir ein Laptop gekauft und vernetze mich nun, bin neu auf den sozialen Netzwerken aktiv. Auch habe ich viele Rückmeldungen auf meine Biographie erhalten, so zum Beispiel von einer Influencerin, die genau wie ich Legasthenikerin ist, vielleicht ergibt sich daraus etwas. Zudem hätte ich Lust, mich wieder einmal künstlerisch zu betätigen, beispielsweise Skulpturen anzufertigen. Jetzt schaue ich, was kommt, ich bin ja immer noch offen für Neues. Auf jeden Fall will ich mit der Zeit gehen, und solange ich lebe, will ich mitgestalten – für mich ist Leben, einen Beitrag zu leisten.
Vielen Dank, Frau Wagner, für den bewegenden Einblick in Ihr Leben und Ihre inspirierenden Worte sowie alles Gute bei Ihren weiteren Vorhaben!
Meet-My-Life
Die ganze Geschichte von Tina Esther Wagner lässt sich auf www.meet-my-life.net lesen. Die nichtkommerzielle Autobiografie-Plattform wurde von der Universität Zürich lanciert. Die Idee dahinter ist, möglichst viel von normalerweise nur mündlich überlieferten Lebensgeschichten quer durch alle Bevölkerungsschichten im Internet zu verschriftlichen und somit langfristig den Nachkommen sowie Öffentlichkeit und Wissenschaft zu überliefern. Jede Person kann auf der Plattform ihre Biographie online verewigen. Aktuell machen rund 370 Autorinnen und Autoren davon Gebrauch. Es ist damit weltweit die grösste Sammlung an öffentlich lesbaren Lebensgeschichten aus dem Volk. Besondere stilistische oder orthografische Fähigkeiten spielen keine Rolle, genauso wenig wie die Nationalität oder die Sprache der Schreibenden. Auch dieses Jahr wird wieder ein Text mit dem 2000 Franken dotierten Autobiografie-Award ausgezeichnet. Nähere Auskünfte: auf www.meet-my-life.net oder per E-Mail unter info@meet-my-life.net. Eingabeschluss ist der 21. November 2021.
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