Quartierleben
Immer im Einsatz
Renata Heusser ist Präsidentin der Vereinigung Dravet Syndrom Schweiz und setzt sich seit Jahren für Menschen ein, die unter dem Dravet Syndrom leiden, einer seltenen Form der Epilepsie. Für ihre Verdienste wurde sie jüngst mit dem EPI-Preis ausgezeichnet. Ein Gespräch mit ihr über ihre Familie, ihr Engagement und schulische Integration.
14. Dezember 2017 — Dagmar Schräder
Alle zwei Jahre zeichnet die Schweizerische Epilepsie-Stiftung durch den EPI-Preis Personen oder Projekte aus, die «den Lebensalltag von Menschen mit Epilepsie verbessern». Im November 2017 ging der Preis an die Wipkingerin Renata Heusser für ihr Engagement bei der «Vereinigung Dravet Syndrom Schweiz». Dieser Verein hat es sich zum Ziel gesetzt, die Lebensqualität von Kindern und Erwachsenen mit Dravet Syndrom zu verbessern. Heusser und ihre Familie gehören selbst zu den Betroffenen: Im zarten Alter von acht Monaten hatten bei ihrem heute 9-jährigen Sohn Romeo aus heiterem Himmel plötzlich schwere epileptische Anfälle eingesetzt. Eine lange Zeit der Ungewissheit, eine Odyssee durch die Krankenhäuser folgte. Immer wieder mussten die Eltern um das Leben ihres kleinen Sohnes fürchten, wenn ein nicht aufhören wollender Anfall notfallmedizinische Hilfe erforderte. Es verging mehr als ein Jahr nach dem ersten Anfall, bis die Familie schliesslich durch eine Genanalyse die niederschmetternde Diagnose «Dravet Syndrom» erhielt.
Wipkinger: Frau Heusser, was ist das Dravet Syndrom?
Renata Heusser: Das Dravet Syndrom ist eine sehr seltene und schwere Epilepsieform. Die Erkrankung beruht auf einer Genmutation, die in den allermeisten Fällen nicht vererbt wird, sondern spontan auftritt. Bis heute gilt die Krankheit als therapieresistent. Typischerweise kommt es bei einem zunächst gesunden Kind im ersten Lebensjahr zu Krampfanfällen. Ab dem zweiten Lebensjahr verlangsamt sich die geistige und psychomotorische Entwicklung.
Wie äussert sich die Krankheit bei ihrem Sohn?
Nach der ersten Phase der Krankheit mit den wiederkehrenden langen Anfällen und den «Stati epileptici», also den Anfällen, die länger als 20 Minuten dauern und nicht mehr aufzuhören drohen, sind die Anfälle in letzter Zeit kürzer geworden. Mittlerweile krampft Romeo tagsüber glücklicherweise kaum noch. Nachts wird er durchschnittlich noch viermal monatlich von einem Anfall heimgesucht. Mittlerweile wissen wir, welche Faktoren – unter anderen – bei ihm die Anfälle auslösen können. Romeo reagiert sehr stark auf optische Muster, sei es auf der Kleidung, auf Bildern, als Struktur an der Wand eines Gebäudes und anderes. Wir müssen stets versuchen zu verhindern, dass er diese Muster sieht, um eine Häufung von Anfällen zu vermeiden. Aufgrund seiner Krankheit entwickelt sich Romeo langsamer als andere Kinder. Er hat Probleme mit seinem Gleichgewicht, leidet an Ataxie (Gangunsicherheit), konnte lange nicht rennen oder etwa klettern. Kognitiv ist er heute ungefähr auf dem Entwicklungsstand eines Drei- bis Sechsjährigen.
Was bedeutet das für die Familie im Alltag?
Romeo ist ein Kind, das eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung benötigt. Er kann nicht alleine draussen spielen oder Freunde besuchen wie andere Kinder in seinem Alter. Um ihn nicht der Gefahr eines Anfalls auszusetzen, meiden wir zudem all die Orte, von denen wir wissen, dass dort gewisse Muster vorhanden sind. Aus diesem Grund können wir etwa beispielsweise nicht im Hallenbad Altstetten schwimmen gehen, die Decke dort weist ein für Romeo gefährliches Muster auf. Unterstützend trägt Romeo ausserhalb der Wohnung eine Spezialbrille, die die Kontraste verwischt. Um die schlimmsten Anfälle zu verhindern, muss Romeo zudem täglich vier verschiedene Anti-Epileptika zu sich nehmen. Ganz verhindern lassen sich die Anfälle aber leider nicht.
Als betroffene Mutter haben Sie gemeinsam mit anderen Eltern die «Vereinigung Dravet Syndrom Schweiz» gegründet. Welche Inhalte und Ziele verfolgt dieser gemeinnützige Verein?
Mir war und ist es immens wichtig, möglichst viele Informationen über diese wenig bekannte Krankheit zu sammeln und weiterzugeben. Es gibt noch so viele ungeklärte Fragen in Bezug auf das Dravet Syndrom. Aus diesem Grund habe ich gemeinsam mit anderen Eltern 2012 die «Vereinigung Dravet Syndrom Schweiz» gegründet. Wir wollen Betroffene informieren und unterstützen, die Krankheit in der Öffentlichkeit bekannter machen sowie dazu beitragen, dass die Ursachenforschung und die Suche nach Heilungsmöglichkeiten intensiviert wird. Diese Arbeit kann nur eine Patientenorganisation leisten, die Pharmakonzerne haben von sich aus kein Interesse, an einer solch seltenen Krankheit Forschung zu betreiben. Zu diesem Zweck haben wir uns auch international mit anderen Patientenorganisationen vernetzt: Im Sinne von «together we are stronger» haben wir 2014 zusammen mit sieben anderen Organisationen die «Dravet Syndrome European Federation» gegründet. Ein weiterer wichtiger Beitrag, den der Verein leistet, ist der Austausch unter den Betroffenen. Wir richten Regional- und Jahrestreffen aus, an denen sich Familien begegnen und austauschen können. Zudem bieten wir mit der Homepage eine Plattform, wo alltagstaugliche Tipps und Ideen vermittelt werden können – von Notfallprotokoll-Beispielen bis hin zur Wahl des richtigen Buggys. Es erspart den Einzelnen viel Arbeit, wenn sie auf die Erfahrungen anderer zurückgreifen können, die Ähnliches durchgemacht haben.
Eines der Themen, das viele betroffene Eltern beschäftigt und auch für Sie gerade sehr aktuell ist, ist das der schulischen Integration. Ihr Sohn besucht seit August dieses Jahres an zwei Vormittagen pro Woche den Unterricht einer Regelklasse im Nordstrassen-Schulhaus. Wie läuft diese Teilintegration genau ab?
Romeo wird bei der Teilintegration von einem Sozialpädagogen 1:1 betreut. Dieser begleitet ihn sowohl in der Regelschule als auch in der heilpädagogischen Schule, die Romeo an den anderen Wochentagen besucht. Im Schulhaus Nordstrasse besucht Romeo die Unterstufe. Hier sind die Klassen altersgemischt zusammengesetzt, die 1.-3. Klässler lernen und arbeiten gemeinsam. Dieser Umstand ist für Romeo ein wahrer Glücksfall. Er befindet sich in der gleichen Klasse wie seine Altersgenossen und kann gleichzeitig mit den Erstklässlerinnen und Erstklässlern, die eher seinem kognitiven Niveau entsprechen, Lesen lernen.
Bis anhin hat Romeo die heilpädagogische Schule besucht. Sie haben sich persönlich sehr dafür eingesetzt, dass er zumindest teilweise die Regelschule besuchen darf. Warum ist Ihnen die Integration so wichtig?
Uns geht es bei der Integration Romeos weniger darum, ihn in Bezug auf seine schulischen Leistungen zu integrieren, als vielmehr, ihn in seinem Quartier, in seinem Lebensraum, hier in Wipkingen zu vernetzen. Ich empfinde es zudem als einen unbezahlbaren Vorteil, dass Romeo zu Fuss in die Schule laufen kann. Sozial ist er nun ganz anders im Quartier verankert: Die Kinder aus der Schule kennen ihn und grüssen ihn auf der Strasse. Aus den Erzählungen seines Sozialpädagogen und den Fotos, die wir ab und zu aus dem Unterricht geschickt bekommen, lässt sich auch erkennen, dass seine Klassenkameradinnen und -kameraden sehr gut mit der neuen Situation umgehen und Romeo ohne Berührungsängste aufgenommen haben.
Und Romeo, ist der auch zufrieden mit der neuen Situation?
Er erzählt zu Hause nicht viel von seiner Zeit in der Schule. Sprachlich fällt es ihm ja ohnehin schwer, sich auszudrücken. Wenn ich ihn frage, was er in der Schule gemacht hat, antwortet er meist nur mit einem Wort, zum Beispiel «Turnen». Turnen scheint jedenfalls sein Lieblingsfach zu sein, so viel lässt sich unschwer erkennen. Mehr noch als seine Worte jedoch sagen die leuchtenden Augen aus, wenn er aus der Schule nach Hause kommt. Aus unserer Sicht ist die Integration bis anhin also durchaus positiv verlaufen.
Frau Heusser, wir danken herzlich für das Gespräch.
EPI-Preis 2017
Die Schweizerische Epilepsie-Stiftung hat Renata Heusser Jungman den EPI-Preis 2017 verliehen. In Anerkennung ihres unermüdlichen Einsatzes für die Vereinigung Dravet Syndrom Schweiz, wo sie als Vorstandspräsidentin die treibende Kraft des Unternehmens ist, und um ihr Respekt zu zollen für den immensen Spagat, den sie vollbringt zwischen Familie mit einem behinderten und einem gesunden Kind, Berufstätigkeit und der zusätzlichen Vereins- und Öffentlichkeitsarbeit. Der Preis ist mit 10´000 Franken dotiert.
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