Ist die Krise überstanden?

Expert*innen prophezeien bereits den nächsten wirtschaftlichen Aufschwung. Ist das auch schon bei den lokalen Gewerbetreibenden angekommen? Wie geht es ihnen nach über einem Jahr Ausnahmezustand? Ist die Krise wirklich schon vorbei?

Die Menschen suchen wieder den persönlichen Kontakt, das merkt auch das «Chez nous».

Die erste Erkenntnis: Das eine Gewerbe gibt es nicht. Jedes Geschäft hat das vergangene Jahr anders erlebt. Gelernt haben alle etwas. Über Solidarität, die eigene Resilienz, Flexibilität. Die zweite: Es gibt «Gewinner*innen» im Business und solche im Herzen. Einfach ist diese Zeit für niemanden, aber geklagt wird nicht. Es ist, wie es ist. 61 Jahre lebt Antonio Stefano bereits– mit Unterbrüchen – in Wipkingen. Sein Schuhmachergeschäft an der Lägernstrasse betreibt er schon fast so lange, dabei müsste er eigentlich gar nicht mehr arbeiten. Doch solange seine Augen und Hände noch mitmachen, wird er täglich an seiner Singer Nähmaschine anzutreffen sein. Die Pensionsrente hat ihn während der Coronakrise  vor existenziellen Sorgen bewahrt. Gerade bereite ihm eine Knieoperation etwas Schmerzen, weshalb er gar nicht unglücklich sei, dass das Geschäft noch immer nicht richtig Fahrt  aufgenommen hat seit dem ersten Lockdown. Doch er fragt sich, wieso die oft älteren Kund*innen noch wegbleiben: Haben sie einfach Angst, oder gibt es vielleicht schlimmere Gründe? Dennoch bleibt Schuhmacher Stefano zuversichtlich: Es werden wieder bessere Zeiten kommen. Was ihn zurzeit eher beschäftigt, ist der Wandel, den das Quartier verkehrs- und bautechnisch gerade durchlebt.

Schuhmacher Antonio Stefano an seiner Singer Nähmaschine. Er hofft, seine alte Kundschaft bald wiederzusehen.

Schuhmacher Antonio Stefano an seiner Singer Nähmaschine. Er hofft, seine alte Kundschaft bald wiederzusehen.

 

Der persönliche Kontakt ist wieder wichtig

Ein paar Meter weiter, an der Ecke, wo früher der Sorbetto-Laden war, hat vor Kurzem das Ladencafé «Chez nous» eröffnet. Hier sind allerlei Bücher, Postkarten, Limos, Bier und Weine aus der Region zu finden, den Kaffee liefert das eingemietete «Rent a Barista». Nicht gerade die beste Zeit für eine Eröffnung, würde man meinen. Das sieht Geschäftsführerin Alexandra von Albert etwas anders. Als sie im Oktober 2020 direkt am Röschibachplatz als Zwischennutzung das Pop-up «Chez nous» eröffnete, war das eine relativ spontane Aktion, aber nicht planlos. «Wir konnten auf unsere Erfahrung zurückgreifen, die wir mit einem Pop-up in Wiedikon gesammelt haben», erzählt von Albert. Das Angebot «Kaffee-to-Go» füllte vor allem anfangs Jahr, als die Restaurants geschlossen waren, eine grosse Lücke. Hatten sie keine Angst, mitten in diesen unsicheren Zeiten ein eigenes Geschäft zu lancieren? «Nein, wir haben es einfach gemacht», meint die junge Frau nur. «Die Schwellen sind bei einer Zwischennutzung ja etwas tiefer, aber wir haben uns schon auch abgesichert, zum Beispiel, indem wir sicherstellten, dass wir die Produkte, die wir nicht verkaufen konnten, wieder zurückschicken konnten». Nachdem Ende März die Abbrucharbeiten des Gebäudes am Röschibachplatz begannen, zog das «Chez nous» am April an die Rotbuchstrasse. Von Anfang an sei ihnen grosses Wohlwollen und Interesse entgegengebracht worden. Von Albert ist überzeugt, dass während der Krise ein neues Bewusstsein für lokale Produkte und Dienstleistungen gewachsen sei. «Nach den Lockdowns und der langen Zeit der Homeoffice-Pflicht schätzen die Leute auch den persönlichen Kontakt viel mehr», meint sie.

Wenn die Krise einen Boom auslöst

Daniel Eichholzer vom VELOATELIER ist einer der sogenannten «Gewinner» der Coronakrise.  Seit letztem Frühling floriert sein Geschäft an der Kornhausstrasse, wie er es in seinen 30 Jahren in Wipkingen nie zuvor erlebt hat. Klar, während den sechs Wochen des ersten  Lockdowns im Frühling 2020, als er das Geschäft nur für Reparaturen geöffnet haben konnte, litt der Fahrradverkauf. Doch seither ist die Nachfrage nach Fahrrädern und Produkten rund um das Velo ungebrochen auf sehr hohem Niveau. Nun beschäftigen Eichholzer plötzlich ganz andere Fragen: Wenn die Lieferanten der Fahrräder bereits im Februar ausgeschossen sind, lassen sich auf die Schnelle keine neuen Velos bestellen. Der ganze Warenfluss ist von der Krise betroffen. «Ein Fahrrad besteht aus vielen Einzelteilen, die auf der ganzen Welt, aber meistens in Südostasien produziert werden», sagt der Geschäftsführer. «Fehlt ein Teilchen, kann das ganze Produkt nicht hergestellt werden. Wenn es in Malaysia einen lokalen  Lockdown gibt, hat das direkte Auswirkungen auf uns». Das betrifft sowohl die Produktion wie auch die Lieferketten: Einerseits sind die Rohstoffe knapp, andererseits haben die Transportfirmen ihre Kapazitäten heruntergefahren und können diese nicht innert kürzester Zeit wieder auf den Stand vor Corona hochfahren. Als Folge davon steigen natürlich auch die Preise. Für die Velohändler bedeutet das, dass sie viel langfristiger planen müssen. «Wir haben jetzt gerade den Einkauf für 2022 abgeschlossen», sagt Eichholzer. Früher musste er nicht so lange im Voraus planen und konnte teilweise kurzfristig auch mal ein einzelnes Fahrrad nachbestellen, was aktuell schwieriger ist. Er geht von einer anhaltend hohen Nachfrage nach seinen Dienstleistungen und Fahrrädern aus, gerade auch, weil die Stadt sich ja zu einer Velostadt entwickeln will.

 

Daniel Eichholzer vom VELOATELIER geht davon aus, dass die Nachfrage im Velobereich hoch bleiben wird.

Daniel Eichholzer vom VELOATELIER geht davon aus, dass die Nachfrage im Velobereich hoch bleiben wird.

 

Rückhalt im Quartier gefunden

Der Lärm der Baustelle auf dem Röschibach stört Schneiderin Dallel Idri, die ihr Atelier seit  einigen Jahren mitten im Quartier führt, nicht. Im Gegenteil: «Ich mache selber Lärm.  manchmal habe ich genug davon, dann öffne ich die Türe und wechsle die Musik», sagt sie lachend. Ohnehin hat sie ganz andere Probleme. Das vergangene Jahr war eine emotionale Berg- und Talfahrt. Dallel stand kurz davor, ihr kleines Atelier am Röschibachplatz zu schliessen. Als im März 2020 der erste Lockdown kam, hatte sie gerade noch 400 Franken in der Kasse. Die Designerfirmen, mit denen sie sonst zusammenarbeitet, stornierten alle Aufträge, und auch kleinere Änderungen und Ähnliches fiel komplett weg. «Das war schrecklich», sagt die lebhafte Frau, «plötzlich sah ich mich mit der Frage konfrontiert, wie ich Essen für meine beiden Kinder kaufen, geschweige denn die Miete zahlen sollte». Klar, sie konnte das Bankkonto überziehen, aber nicht jeden Monat um Tausende von Franken, die alleine durch die Fixkosten aufgefressen werden. «Was mich sehr schockiert hat, sind die Anfragen von Leuten, die nur darauf warten, dass man Konkurs geht und einem sogar viel Geld dafür zahlen wollen, damit man den Laden freigibt», sagt die Schneiderin. Das habe sie vorher noch nie erlebt. Verwandte hat Dallel in der Schweiz keine – «meine Kund*innen sind meine Familie», sagt sie. Dass sie sich auf diese verlassen kann, das hat die Krise gezeigt: «Ich war am Ende und an einem Punkt angelangt, wo ich meine Schneiderei aufgeben wollte», erinnert sich Dallel. Als letzten Akt schrieb ich aber meine Kund*innen an und bat sie, mir ehrlich zu sagen, ob sie möchten, dass ich im Quartier bleibe. Ich, nicht irgendein anderes Schneideratelier, das sicherlich gleich nach mir eröffnet hätte». Wenn es ihnen nicht so wichtig wäre, wäre das auch eine Erkenntnis, aber dann würde sie sich sicherlich nicht noch dafür verschulden. Die Reaktionen ihrer Kund*innen waren überwältigend: «Alle haben in ihren Schränken nach Stücken gesucht, die es zu flicken oder zu ändern gab. Eine Kundin hat sogar meine Miete bezahlt, die ich nun mit Arbeit zurückzahle. Natürlich sind das auch Schulden, aber damit kann ich leben. Zu sehen, dass ich und meine Arbeit geschätzt werden, hat mir Mut gemacht.» Dennoch, die Krise ist für die Schneiderin längst nicht überstanden. Immer noch gibt es keine grossen Feiern, keine festlichen Hochzeiten, keine Konzerte. Von Änderungen alleine kann sie nicht leben, sie braucht die grossen Aufträge von Künstler*innen, Musiker*innen und Schauspieler*innen. «Wenn es noch einen Lockdown gibt in diesem Jahr, ist es für mich vorbei, dann muss ich trotzdem schliessen», sagt sie. Dennoch, dass sich die Menschen im Quartier für sie eingesetzt haben, macht sie glücklich. «Geld kommt und geht. Was bleibt, ist die Freude und die Freundschaft der Kund*innen.»

«Ich war am Ende und an einem Punkt angelangt, wo ich mein Geschäft aufgeben wollte»: Dallel Idri in ihrer Schneiderei.

«Ich war am Ende und an einem Punkt angelangt, wo ich mein Geschäft aufgeben wollte»: Dallel Idri in ihrer Schneiderei.

 

Hoffen, dass das Interesse anhält

Ganz anders erlebte Barbara Schürz, Inhaberin des Optikergeschäfts Schürz Brillen & Kontaktlinsen, die vergangenen Monate: «Ich habe nie zuvor in so kurzer Zeit so viele Neukund*innen gewonnen wie im Corona-Jahr», sagt sie. Obwohl ihr Geschäft schon seit 28 Jahren existiert, war es vielen Wipkinger*innen offenbar nicht bekannt. Zumindest hat Geschäftsinhaberin Barbara Schürz das in den vergangenen Monaten recht oft zu hören bekommen. Das sei sehr erstaunlich, aber auch erfreulich und liege wohl daran, dass die Leute mehr im eigenen Quartier unterwegs seien und es neu entdeckten, meint Schürz. «Plötzlich realisiert man, dass der lokale Detailhändler gar nicht so viel teurer ist und sogar noch einen guten Kundenservice bietet», sagt sie. Diese Rückbesinnung auf das eigene direkte Umfeld sei schon eine positive Folge der Krise. Persönlich fand sie es gar nicht so schlecht, einmal zum «Nichtstun» gezwungen zu werden und zu entschleunigen. Das gab Raum, die eigenen Strukturen und Abläufe einmal zu analysieren. Gut war sicherlich, dass man schon früher Lieferdienst und Hausbesuche angeboten hatte. «Richtig viel ändern mussten wir zum Glück nicht», sagt die diplomierte Optikermeisterin. Einzig die Regel, dass man einen Termin vereinbart, um sich beraten zu lassen, würde sie auch in Zukunft gerne beibehalten. «Es ist sehr schön, sich auf jede*n Kund*in vorbereiten und sich genügend Zeit nehmen zu können», und beim Haarsalon oder in der Zahnarztpraxis arbeite man auch mit Terminen, wieso nicht im Optikergeschäft? Ist also die Normalität schon zurück?

Ja und nein, findet Schürz. Einerseits seien die Menschen wieder mehr unterwegs, andererseits könne man einfach noch nicht sagen, wie das Jahr zu Ende gehen wird. Natürlich hoffe sie, dass die gestiegene Nachfrage nach lokalen Produkten nachhaltig so hoch bleibt, aber es sei noch viel zu früh, eine Tendenz auszumachen. «Es wird wohl davon abhängen wie sich das Quartier weiterentwickelt und ob die Leute nach der Homeofficezeit ihr lokales Einkaufsverhalten beibehalten oder in alte Muster zurückfallen, meint sie. Als grundsätzlich positiv denkende Person sieht sie der Zukunft aber optimistisch entgegen.

 

Bleibt optimistisch: Barbara Schürz vor ihrem Optikergeschäft.

Bleibt optimistisch: Barbara Schürz vor ihrem Optikergeschäft.

 

Das Seco hat nach den Lockerungen der Corona-Massnahmen im März seine Konjunkturprognose für 2021 erhöht. Die Wirtschaftsexpert*innen gehen davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Schweiz in den kommenden Monaten stark wachsen wird. Auch aufgrund der letzten Lockerungen des Bundesrats wird eine weitere, zügige Erholung der Wirtschaft erwartet. Dennoch spürt man in den Gesprächen eine Skepsis, dass die Krise tatsächlich schon vorbei sein soll. Die Erinnerungen an den unbesorgten Sommer 2020 und was darauf folgte, sind noch nicht verblasst.

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