Quartierleben
«Literatur muss nicht bequem sein!»
Simone Lappert schreibt, seit sie denken kann. Als weiblich gelesene Person in diesem Beruf wird sie sowohl vom Literaturbetrieb selber als auch von der Öffentlichkeit oft auf ihr Geschlecht reduziert. Das will sie ändern und sie findet: Kunst darf unbequem sein.
29. Juni 2021 — Lina Gisler
Begonnen hat Simone Lapperts Schreibkarriere mit Märchen, die sie auf dem alten Computer im Büro des Vaters niederschrieb. «Geschichtenerzählen hat in unserer Familie schon immer eine grosse Rolle gespielt», erklärt Lappert. Ihr Vater habe erfundene Geschichten erzählt, bei denen die Kinder bestimmen durften, in welche Richtung es gehen sollte. Später hat sie diese Rolle übernommen.
Lappert begann ein Germanistik- und Philosophiestudium, realisierte dann aber, dass es nicht das Richtige für sie war. Sie bewarb sich beim Literaturinstitut in Biel. Erst dort merkte sie, dass sie das Schreiben auch zu einem Beruf machen könnte. Besonders wertvoll war der Austausch mit anderen Studierenden. Sie lasen gegenseitig ihre Texte und versuchten die Knöpfe darin zu finden. Wo waren die Stolpersteine? Wo blieben Fragen offen? Diese Fragen zu adressieren, habe ihr enorm viel gebracht. Was sie zudem mitgenommen habe: Umwegen, die das Schreiben braucht, Platz zu geben und sie zu akzeptieren.
Schreiben, um Fragen zu stellen
2014 erscheint Simone Lapperts Romandebüt «Wurfschatten», ein Buch über das Leben einer Schauspielerin mit Angststörungen. 2019 bringt sie «Der Sprung» heraus. Es handelt von einer jungen Frau, die auf einem Dach steht und in den Abgrund schaut. Als sie sich weigert hinunterzukommen, gerät die Stadt in Aufruhr. «Ich bin noch immer sehr offen in der Form», erklärt Lappert. Sie beschränkt sich nicht auf Prosa, sondern schreibt Lyrik, Kolumnen und literarische Beiträge für Zeitungen, oft kollaboriert sie mit Künstler*innen aus anderen Sparten.
Der Schreibimpuls kann für Simone Lappert alles Mögliche sein: eine Szene, die sie beobachtet, eine Wahrnehmung, eine Erzählung. Letzteres war es, was sie zu «Der Sprung» animierte. Über verschiedene Ecken erfuhr sie von einem Ereignis, das sich in einer Kleinstadt abgespielt hatte. Eine Person stand auf einem Hausdach, unten versammelten sich viele Schaulustige. Die Menschen in der Menge sollen unglaubliche Dinge wie «Spring doch, du Weichei!» gerufen haben. «Diese absurde und brutale Szenerie hat mich nicht mehr losgelassen», erzählt Lappert – und gleichzeitig hätten sich damit für sie auch extrem viele Fragen aufgetan: Wie kann so etwas passieren? Wieso reagieren Menschen auf solch eine Weise? Wie stark ist das Bild, das wir von anderen Menschen haben, geprägt von unseren eigenen Erfahrungen, Ängsten und Problemen? Wie empathiefähig sind wir? Wie gehen wir mit Menschen um, die aus der Reihe tanzen? Dies ist für Lappert auch der Grund, weshalb sie schreibt: Um Fragen möglichst präzise zu stellen und ihnen nachzugehen. «Ich schreibe mich in Fragen hinein», sagt Lappert. Dabei geht es ihr aber nicht darum, abschliessende Antworten zu finden. Nur eine Message übermitteln zu wollen, ist ihr zu unterkomplex. «Ich bin überhaupt nicht daran interessiert, dass meine Figuren zu Marionetten werden, die meine Weltsicht rausposaunen.» Zu Beginn eines Romans habe sie zwar oft eine Art Plan. Dann aber kämen die Figuren ins Spiel und würden den Plan wieder über den Haufen werfen. «Das ist das Schöne: Wenn ich bemerke, jetzt übernehmen die Figuren die Zügel, dann muss ich nur noch mitgehen.»
Werden klassische Rollenbilder gebrochen, regt sich sofort Widerstand
Bei den Figuren stellt sich zudem die Frage der Rollenbilder. Sowohl in Hollywood-Filmen als auch in klassischer Literatur wie Märchen würden Klischees häufig reproduziert. «In Märchen muss die weibliche Hauptfigur die schönste und bravste sein und wird dann vom Prinzen gerettet. Und dann ist sie noch dem Hass der anderen Frauen auf sich ausgesetzt», erläutert Lappert. Dies sei eine vergiftete Moral, die den meisten schon am Kinderbett eingetrichtert würde. «Wenn ich Bücher gelesen habe, konnte ich mich oft nur mit männlichen Figuren identifizieren.» Diese starren Rollen gelte es aufzubrechen, nicht nur in der Literatur, auch im Leben, findet Lappert. Dessen musste sie sich selber bewusst werden. Gewisse Geschichten würde sie heute tatsächlich anders schreiben, meint sie. Ganz erledigt hat sich die Problematik für sie jedoch noch nicht: «Ich bin kein Seismograph, die Welt um mich herum entwickelt sich meist schneller, als meine Texte entstehen.» Wie sie damit umgeht, dass auch sie diese Rollenbilder teilweise noch in sich trägt, habe sie für sich noch nicht geklärt: «Bei <Der Sprung> bin ich nicht an den Text und habe mir bewusst überlegt: Ich brauche solche Männer und solche Frauen, Figuren schreiben ist für mich immer ein Kennenlernprozess.» Und doch sind es recht viele starke und komplexe weibliche Charaktere, während die Männer kaum als Helden bezeichnet werden können. Dass sie mit diesen klassischen Geschlechterrollen brach, verunsicherte die Leserschaft teilweise: «Offenbar haben sich einige Männer ziemlich daran gestört, das habe ich interessant gefunden!». Werden klassische Rollenbilder überschrieben, regt sich in der Leserschaft Widerstand.
Mit klassischen Geschlechterrollen sieht sich Simone Lappert nicht nur in der Literatur, sondern auch im Literaturbetrieb konfrontiert. Sie bemerkte schon vor ihrem Studium, dass es offenbar ein Ideal des Schriftstellers gibt – und dass sie diesem nicht entspreche. «Ich finde es hochproblematisch, dass es so ein Bild gibt und dass dieses irgendwie im 18. Jahrhundert stehengeblieben ist.» Denn dieses Bild vom graubärtigen männlichen Genius, der sich bedienen lässt von Hausangestellten, aus seiner gewählten Einsamkeit schöpft und am Morgen schon Cognac trinkt, sei schlichtweg nicht mehr zeitgemäss.
Die sehr engen Stereotypen von Schriftsteller*innen führten zu etlichen unangebrachten Situationen. Lappert kann viele Beispiele aufzählen. So habe ein Fernsehsender ein Porträt von ihr gemacht. Die Interviewerin begrüsste sie mit: «Ah lustig, ich habe mir eine Schriftstellerin ganz anders vorgestellt – weniger auffällig, mit Brille oder so.» An einer Lesung zeigte sich eine andere Schriftstellerin von ihr beeindruckt und war selber überrascht darüber, denn aufgrund des Bildes von Lappert im Klappentext hatte sie das nicht erwartet, wie sie selber zugab. Während eines Apéros schliesslich fragte ein Mann aus dem Literaturbetrieb bei Lappert nach, ob er ihre Romane denn auch lesen könne oder ob das Frauenliteratur sei.
Hinterfragen und fördern
Nichtsdestotrotz habe sich auch einiges geändert, findet Lappert. Stereotypen würden immer mehr hinterfragt, wobei der Diskurs rund um #metoo viel dazu beigetragen habe. Auch die Solidarität unter Frauen würde mehr und mehr gestärkt. Gleichwohl spürt Lappert die Stereotypen noch immer stark, was sie nicht begreifen kann: «Messt uns an unseren Büchern, an dem was wir machen, wie wir auftreten, was wir zu sagen haben. Nicht an irgendeinem seltsamen Bild, das mit der Gegenwart nichts zu tun hat.»
«Mir wurde erst bewusst, in was für ein problematisches Feld ich da reingeraten bin, als ich eigentlich schon drinsteckte», erzählt Lappert. Doch sie musste lernen, damit umzugehen – und dagegen anzukämpfen. Wichtig sei, genau solche Erlebnisse wie die erwähnten zu skizzieren, aufzuzeigen, welche Situationen sie aushalten muss, nur weil sie eine weibliche Autorin ist. Dort, wo sie Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten hat, lädt sie junge talentierte Frauen ein und bietet, wo sie kann, eine Bühne. Sie fördere also im ihr möglichen Rahmen, der jedoch beschränkt sei, weil sie noch nicht sehr lange im Literaturbetrieb tätig sei. Lappert findet, dass jede Frau, die über Gestaltungsmöglichkeiten verfüge, in der Pflicht sei, sich selbstkritisch zu hinterfragen: Mache ich genug? Oder habe ich selber Vorurteile und Stereotypen, bediene ich repressive Strukturen mit?
«Sprache strukturiert, wie wir die Welt sehen»
Um genau diese Vorurteile aufzubrechen, kann die Sprache einen grossen Einfluss haben, beispielsweise, wenn nicht mehr nur das generische Maskulin gebraucht wird. Lappert meint: «Ob man Arzt, Ärztin oder ärztliche Fachperson sagt: Das strukturiert, wie wir die Welt sehen.» Für sie war schnell klar: Wenn jemand sie bittet, den Genderstern zu nutzen, dann verweigert sie das nicht. Sie beschreibt den Umgang damit als einen notwendigen Lernprozess, der mit Unsicherheiten verbunden ist. Etwa in der Frage, ob sie einen Stern oder einen Doppelpunkt nutzen soll. «Aber ich bin gewillt, zu lernen und zu fragen und mich dem anzupassen. Das ist doch schön, wenn sich die Sprache weiterentwickelt. Man muss doch nicht alles immer konservieren.» Dieser Ansicht sind jedoch nicht alle Autor*innen, geschweige denn alle Menschen. Für Lappert gründet dieses konservative Denken darin, dass Menschen Gewohnheitstiere seien, die es nicht mögen, wenn Gewohnheiten aufgebrochen würden, wenn etwas plötzlich anders sei, sich fremd anfühle. Oder wenn ihre weiblichen Figuren eben komplexer, stärker sind, als man sich das gewohnt ist. «Aber genau dazu ist Kunst und Literatur da – sie muss nicht bequem sein!».
0 Kommentare