Quartierleben
Lokführer im Herzen
Der Röschibachplatz hat sich zum «Dorfplatz» Wipkingens gemausert. Hier treffen sich Leute aller Couleur und jeden Alters. Bahnexperte Philipp Schröder ist einer davon. Der «Wipkinger» wollte von ihm wissen, was ihn im Leben umtreibt.
16. Dezember 2020 — Majka Mitzel
Der Röschi war dieses Jahr quasi mein Wohnzimmer: Im Lockdown bin ich jeden Tag hergekommen, habe mich einfach aufs Bänkli gesetzt, oft ein Glacé vom Kiosk gegessen mit meinen Kindern – wir konnten ja alle nichts machen, niemanden treffen, da war es ein Highlight, wenn mal ein Kollege vorbeikam und wir auf Abstand ein paar Worte wechseln konnten. Ich fühlte mich während des Homeoffices hier jeweils ein bisschen wie ein Häftling auf Freigang, es war mein Ausbruch aus der täglich verordneten Notwendigkeit. Der Platz ist ja quasi eine feste Grösse, die nicht geschlossen werden kann.
Die Corona-Situation hat mich das ganze Jahr über beschäftigt: Wann kann ich mal wieder jemanden umarmen, statt nur aus der Ferne kurz zu winken, wann meine Eltern in Berlin sehen, wann können sie wieder die Kinder besuchen? All diese Fragen umtreiben mich. Und wie die Lebensfreude erhalten bleiben kann in dieser schwierigen Zeit, in der ja die sozialen Kontakte stark leiden. Es gibt dennoch auch zahlreiche Momente, in denen ich Corona auf die Seite dränge und vergesse. Zum Beispiel an den herrlichen Tagen am Fluss während des Sommers. Der Winter allerdings treibt mir schon ein wenig Sorgenfalten auf die Stirn.
Arbeitstechnisch habe ich mich gut mit Homeoffice arrangiert, auch wenn es natürlich eine neue Herausforderung war, dies im Frühling gleichzeitig mit dem Homeschooling zu organisieren. Ich bin Verkehrsplaner und arbeite bei einem Beratungsunternehmen in der Eisenbahnbranche. Hier arbeite ich an Fahrplan- und Betriebskonzepten und betreue Projekte des öffentlichen Verkehrs, in erster Linie für Deutschland, und vermittle dabei, aktuell bei den Planungen zum Deutschlandtakt, viel zwischen Bahnunternehmen, Auftraggebern und Verbänden. Wir sind vollkommen flexibel, was den Arbeitsort angeht, die Zusammenarbeit läuft momentan sowieso virtuell. Aktuell habe ich «Homeoffice on Tour» für mich entdeckt: Ich steige wochentags immer mal wieder am Vormittag in einen leeren Zug und fahre in die Berge, unterwegs kann ich prima arbeiten, das GA muss ja abgefahren werden. Beruflich oder privat, ich bin ausschliesslich mit den Öffentlichen unterwegs, ein Auto habe ich noch nie besessen. Da kommt mir die hervorragende Anbindung Wipkingens an den ÖV natürlich sehr gelegen – egal ob mit S-Bahn, Bus oder Tram, man ist unkompliziert überall.
Dass ich ein profunder Kenner des Schweizer Bahnsystems bin, kommt meinen Kunden in Deutschland sehr zugute: Dort gilt das Schweizer Bahnsystem mit seinem Taktfahrplan schon lange als Vorbild. Seit fast 40 Jahren fahren die Züge hier ja zu einem genau festgelegten Takt, meist zur halben oder zur vollen Stunde nach der Regel der so genannten Nullsymmetrie. Bei dieser werden die Zeit-Weg-Linien eines Zuges an der Zeitachse zur Minute 0 gespiegelt. Das hat zur Folge, dass die jeweiligen Züge einer Linie sich bei einem Stundentakt immer zur Minute 0 und 30 mit ihren Gegenzügen derselben Linie begegnen, entweder im Knoten – das sieht man in Zürich HB vorbildhaft – oder auf der freien Strecke. Beim Halbstundentakt passiert das auch zu den Minuten 15 und 45. Einfach mal darauf achten, wenn man mit der S24 zum HB fährt, und dann die gegenläufige S24 im Vorfeld von Zürich HB entgegenkommt. In der Schweiz kann man, wenn man das Prinzip verinnerlicht hat, danach seine Uhr stellen. In meinen Projekten wird nach Schweizer Vorbild vom Fahrplan aus geplant, dann erst wird die Infrastruktur entsprechend fahrplanbasiert abgeleitet und gebaut. Genauso soll es zukünftig in Deutschland mit dem Deutschlandtakt funktionieren, und da helfen mein Team und ich nach der sehr intensiven Konzeptionierungsphase nun bei der konkreten Umsetzung, das Ganze ist ein sehr langer Prozess. Mein Traum wäre es, dieses Modell auf ganz Europa auszurollen – bis das allerdings soweit ist, bin ich vermutlich schon in Rente.
Ich finde meine Arbeit spannend, vielseitig und klimarelevant, es ist ein nachhaltiger Beruf für ein nachhaltiges Verkehrsmittel sozusagen. Und dennoch: Mit 55 aufhören – ich arbeite bei meiner jetzigen Firma bereits seit 21 Jahren – um Lokführer zu werden, darum kreisen meine Gedanken in letzter Zeit immer wieder. Schon als Kind war mein grosser Traum Lokführer zu werden. Ich bin in Berlin aufgewachsen und unsere Sonntagsspaziergänge führten uns immer entlang der Bahnlinie. Das hatte in der eingeschlossenen Stadt der 70er- und 80er-Jahre auch etwas von Freiheit, Fernweh, weitem Leben. Die Schienen haben mich damals schon fasziniert. Wahrscheinlich bin ich auch hier in Wipkingen intuitiv an die Schienen gezogen. Mein Vater, selber Zahnarzt, drängte mich dann jedoch, etwas «Vernünftiges» zu machen und zu studieren. In Berlin gab es den damals noch einzigartigen Studiengang «Planung und Betrieb im Verkehrswesen», also schrieb ich mich dort ein. Den Weg in die Lokführerkabine fand ich aber dennoch: Während eines Praktikums in einem Depot der Deutschen Bahn lernte ich einen Lokführer kennen, der mich eines Abends in seiner Güterlok mitnahm – seit dieser Nacht hatte es mich gepackt. Es entstand eine Freundschaft zwischen uns, zehn Jahre lang durfte ich ihn auf seinen nächtlichen Fahrten begleiten. Wenn meine Studienkollegen in den Ausgang gingen, machte ich mich auf zum Startbahnhof, um mit meinem Lokführer-Freund durch die Nacht zu kurven. Mein ganzes Geld ging dafür drauf. Auch nach meinem Studium fuhr ich noch unzählige Schichten mit. Ich erlebte Vieles mit: von den Fahrten in der legendären «103», der aus meiner Sicht zusammen mit der «RE6/6» der SBB schönsten Lok der Welt, über Nächte unter Pferdedecken in Lokführerunterkünften bis zur Mitfahrt beim Sonderzug zur Berliner Love Parade. Die letzten zehn Berufsjahre nochmal im Führerhäuschen zu sitzen und durch die Schweizer Landschaft zu fahren, das wäre wirklich noch was.
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