My home is my castle

Die Jugend von Wipkingen ist eine verschworene Gemeinschaft und liebt dieses Quartier. Wer sind diese Jugendlichen, wie leben sie hier, und wie gehen sie mit der Veränderung ihres Quartiers um? Ein Blick hinter die Kulissen einer Generation.

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Die Jugendlichen geniessen die Aussicht auf Zürich vom Aussichtspunkt oberhalb der Kirche Waidhalde in Wipkingen.
Jeder kennt dieses Graffiti. Ein Spruch der vielen Jugendlichen hier aus dem Herzen spricht.
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Vernetzung ist ein sehr wichtiges Thema in der heutigen Welt, doch für Wipkingens Jugendliche hat es eine ganz reale Bedeutung im Alltag: Weil Wipkingen ein kleines Quartier ist, gibt es nur ein Schulhaus mit Sekundarstufe, das Waidhalde, und das schafft einen Grad der Vernetzung wie kaum sonst wo in der Stadt. Wer mit den jungen Leuten hier spricht, merkt schnell: Fast jeder kennt jeden. «Wir sind wie ein Dorf mitten in der Stadt», meint die 20-jährige Eve Bäbler, die im Quartier aufgewachsen ist. Und das ist auch einer der Gründe, weshalb der Zusammenhalt der Jugendlichen im Quartier sehr stark ist ─ trotz ihrer bunten, heterogenen Mischung aus verschiedensten Charakteren. Es ist sozusagen ein, den Erwachsenen weitgehend verborgenes, Netzwerk der Jugend. «Als Jugendlicher kann man nicht durch das Quartier gehen, ohne zumindest eine Person zu sehen, die man kennt. Und klar spricht man dann auch kurz miteinander», sagt Sascha Stalder. Auch er lebt schon von klein auf in Wipkingen. Und kaum sagt er’s, kommt Kayhan Meierhofer, ein weiterer Jugendlicher aus Wipkingen per Zufall vorbei und setzt sich zu uns. Egal ob im Landenbergpark, auf der Wipkingerplatz-Terrasse, bei der «Metro» ─ so nennt man hier die Gartenterrasse direkt oberhalb der Busstation beim Bahnhof Wipkingen ─ im GZ Wipkingen oder beim Letten: Sucht man einen der typischen Treffpunkte der Wipkinger Jugend auf, sind spannende Begegnungen garantiert, egal zu welcher Tageszeit. Brian Schwander, der an der Rosengartenstrasse aufgewachsen ist, sieht aber nicht nur positive Seiten dieser engen Vernetzung. «Wenn man einmal einen Fehler macht oder etwas im Quartier passiert, dann geht es höchstens zwei Tage, bis es alle erfahren haben. Nachrichten verbreiten sich hier schneller als im Internet!». Klar wird gerne getratscht, wenn etwas Brisantes geschieht im Quartier. Und dennoch prägt Toleranz und Verbundenheit die Wipkinger Jugend. Dies hat auch mit der Multikulturalität zu tun, denn in jeder Primarschulklasse in Wipkingen findet man alle möglichen Nationalitäten, Religionen, Kulturen und Traditionen. Nur eines haben alle gemeinsam: Sie alle sind in Wipkingen aufgewachsen und leben hier. Keiner ist wirklich ein Aussenseiter und jeder wird so akzeptiert wie er ist.

Zwiespältige Entwicklung

Wipkingen hatte lange Zeit nicht den besten Ruf. Noch vor nicht allzu langer Zeit erlaubten viele Eltern den Kindern nicht, sich in Pärken in der Nähe der Limmat aufzuhalten. Die Gefahr, auf eine Spritze aus der damals immer noch existierenden Heroinszene beim Letten zu stehen, war zu gross. Es gab sogar Automaten, wo sich Drogenabhängige Spritzen kaufen konnten. Auch die Gewaltbereitschaft, Vandalismus und die Graffiti- und Spraykultur waren stark ausgeprägt, was sogar für Schlagzeilen in der NZZ sorgte. Doch das alles rückt immer mehr in die Vergangenheit. Das Quartier hat sich in den letzten 15 bis 20 Jahren, also in der Zeit, als die heutigen Jugendlichen aufgewachsen sind, drastisch verändert. Alte, versprayte und teils besetzte Häuser wurden abgerissen, neue Wohnblöcke aufgezogen. Sowohl der Wipkingerplatz als auch der Röschibachplatz wurden komplett umgebaut und die gesamte Flusspromenade beim GZ Wipkingen neu aufgebaut. Auch das Restaurant Nordbrücke, das als «Nordbrüggli» bekannt ist, verwandelte sich von einer verruchten Spelunke in eine stadtweit angesehene «In-Bar». Kurz: Wipkingen wurde von einem eher heruntergekommenen, alternativen Quartier zu einem familienfreundlichen und hippen Trendstadtteil von Zürich. Die heutige Wipkinger Jugend hat diese Entwicklung selber miterlebt. Mit gemischten Gefühlen, denn viele vermissen das «alte» Wipkingen. Das heruntergekommene, verwilderte, ein bisschen schmutzige Erscheinungsbild entsprach dem Zeitgeist der Wipkinger Jugend und begleitete die Kinder in ihrer Entwicklung zum jungen Erwachsenen. Es ist sozusagen der Charakter dieses Quartiers und gehört für die Jugend genauso zu Wipkingen wie die Limmat zu Zürich gehört. Denn in dieses alte Wipkingen wurde die ganze Generation hineingeboren. Und die schleichende Aufwertung des Quartiers lässt das Wipkingen, in dem die Jugendlichen aufgewachsen sind, langsam verblassen und die Quartiersgemeinschaft wird von neuen Gesichtern eingenommen. «Im Brüggli sieht man nur noch Yuppies und Hipster! Wipkingen verliert sein wahres Gesicht», meint Sascha und steht mit dieser Meinung nicht alleine da. Viele Jugendliche sind auch unzufrieden mit der Entwicklung im Unteren und Oberen Letten. Im Hochsommer ist es dort kaum noch möglich einen Platz zu finden, da die Badeanstalt überquillt und die halbe Stadt Zürich und selbst Leute von ausserhalb der Stadt den Fluss und die Letten-Badis überrennen. Wipkingen wird immer mehr zu einem Mainstreamquartier. Doch trotz all dieser Veränderung sind die Wipkinger Jugendlichen nach wie vor stolz auf ihr Quartier und würden es gegen keinen anderen Ort eintauschen. Es grenzt fast schon an Lokalpatriotismus, wie die Jugendlichen ihr Quartier zelebrieren. Für alle ist klar, dass Wipkingen unglaublich ist. Es wird lange nachgedacht bis man überhaupt negative Seiten am Quartier findet. Es gibt alles, was die Jugend braucht: Einen Fluss für die Abkühlung an heissen Sommertagen, ein Netzwerk, in dem man immer jemanden findet, um etwas zu unternehmen, sowohl die Langstrasse als auch die Partymeile der Hardbrücke ist in einer Fussdistanz erreichbar, viele Pärke und Plätze, wo man sich ungestört auf einen Joint oder ein Bier treffen kann ─ beides ebenfalls Medien, die zur Vernetzung der Jugendlichen beigetragen haben ─ und dann liegt es auch noch mitten in der Stadt Zürich. Alle diese Faktoren zusammen übertreffen auch den Unmut über die Veränderung des Quartiersbilds, denn egal was verändert wird; Wipkingen bleibt Wipkingen. Und egal ob Röschibach, Landenbergpark, Metro oder GZ, man trifft die Jugendlichen überall und nirgends sind sie lieber, als in ihrem geliebten Wipkingen. Und viele von ihnen werden vermutlich auch noch in vielen Jahren hier anzutreffen sein.

Zum Autor
Béla Brenn, 20 Jahre alt, ist in Wipkingen aufgewachsen und studiert Politikwissenschaften und Philosophie an der Universität Zürich.

2 Kommentare


Dä Caldi

8. März 2018  —  15:00 Uhr

Top Artikel, Top Bilder!

FERNED MAURICIO GUZMAN MEJIA

14. Oktober 2016  —  06:53 Uhr

mauri denkt, dass diese Beschreibung von Wipkingen zutreffend ist. Bravo Herr Béla. Hervorragend geschrieben.

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