Schulen im Brennpunkt

Geht es um die Volksschule, sind zu grosse Klassen und integrative Förderung immer wieder ein Thema. Doch wo liegen die Herausforderungen der Bildungsstätten tatsächlich? Der Wipkinger hat sich umgehört.

Es wird eng in den Schulen. Schule Nordstrasse
Pavillon beim Schulhaus Waidhalde.
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Wenn Anfang Juni die Stundenpläne für das nächste Schuljahr verschickt werden, steigt die Spannung bei den Eltern: welchem Schulhaus wurde das Kind zugeteilt? Kommt es, bei der Einschulung, mit seinen Freunden in die gleiche Klasse und wie gross wird diese sein? In den Medien liest man von vollen Klassenzimmern, Helikoptereltern und Lehrpersonen am Rande der Verzweiflung. Im Wipkinger Schulhaus gab es im letzten Schuljahr zwei 1. Parallelklassen mit 25, respektive 26 Schülerinnen und Schülern. Der Schnitt der Unter- und Mittelstufe-Klassen lag aber bei unter 20 Kindern. Das ist natürlich ein schwacher Trost für die betroffenen Eltern und Lehrpersonen, aber es relativiert etwas das Bild von einer «prekären» Lage, zumindest in Wipkingen.

Die drei Wipkinger Schulhäuser Letten, Nordstrasse und Waidhalde gehören dem Schulkreis Waidberg an, welcher sich von Rütihof bis Oberstrass erstreckt und in 15 Schulen rund 5000 Schülerinnen und Schüler aufnimmt. Seit Jahren steigt die Geburtenrate in diesen Quartieren – wie in der ganzen Stadt – stetig an: Waren es 2002 noch 0,95 Kinder, stieg diese Zahl bis 2015 auf 1,35 Geburten pro 100 Personen. Entsprechend zugenommen hat auch die Anzahl Kindergartenkinder, Schülerinnen und Schüler. Jeder Schulkreis erhält vom Kanton für den Unterricht eine Anzahl Stellenprozente ausgewiesen, welche sich einerseits aus den Schülerzahlen des Vorjahres und andererseits aus dem Sozialindex berechnet. Der Sozialindex berücksichtigt verschiedene Faktoren wie die Anzahl Kinder mit Migrationshintergrund oder Familien, die Sozialhilfe beziehen müssen. So sollen belastete Quartiere mehr Stellenprozente bekommen und kleinere Klassen bilden können. Wipkingen hat sich diesbezüglich in den letzten Jahren stark verändert. Es gibt immer weniger fremdsprachige Kinder und eher mehr gut situierte Familien. Dadurch hat beispielsweise die Schule Nordstrasse, die lange eine QUIMS-Schule war (QUIMS steht für Qualität in mulitkulturellen Schulen) ihre Berechtigung für das Förderprogramm verloren. Durch den gesunkenen Sozialindex erhalten die Schulhäuser auch weniger Ressourcen, sodass mehr Kinder auf weniger Lehrpersonen aufgeteilt werden müssen. In der Primarschule liegt die Richtzahl für die maximale Klassengrösse bei 25 Kindern, bei jahrgangsgemischten Klassen, wie es sie in der Schule Nordstrasse gibt, liegt er etwas tiefer, bei 21. Im Schnitt seien die Klassengrössen in den letzten zehn Jahren jedoch nur um ein halbes Kind angestiegen, relativiert Kreisschulpflege Präsident Urs Berger, der jedes Jahr neu analysiert, wo die Kinder leben und in welche Schulen sie kommen. Dafür erhält er von der Fachstelle für Schulraumplanung die Angaben, wie viele Kinder mit welchem Jahrgang in welcher statistischen Zone wohnen, dazu kommt die Zu- und Wegzugsrate. Jedes Schulhaus hat ein eigenes Einzugsgebiet, es wird angestrebt, dass die Kinder möglichst in ihrem Raum bleiben können, was aber nicht immer möglich ist. Manchmal müssen Klassen geschlossen werden, weil es zu wenig Kinder hat, zurzeit ist es aber eher so, dass es zu viele sind und man auf andere Schulhäuser ausweichen muss. Aus diesem Grund kann es vorkommen – auch wenn versucht wird, es möglichst zu verhindern – dass ein Kind oder auch eine ganze Klasse in ein entfernter gelegenes Schulhaus geschickt wird. Wenn diese Zuteilung geschafft ist, erhalten die einzelnen Schulleitungen schliesslich eine Liste mit einer Anzahl Kindern mit dem Auftrag, entsprechende Klassen zu bilden.

Herausforderungen des neuen Volksschulgesetzes

Das neue Volksschulgesetz, das 2005 vom Volk angenommen wurde, schreibt vor, dass die Zusammensetzung innerhalb der Klassen ausgewogen sein soll und auch Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in die Regelklassen integriert werden müssen. Neben den Stellen für den Unterricht erhalten die Schulen zusätzliche Ressourcen für die Förderung einzelner Kinder und die Unterstützung von Klassen. Die drei Wipkinger Schulen erhalten für alle Stufen im neuen Schuljahr 17/18 insgesamt 520 Stellenprozente für die heilpädagogische Förderung, 390 Stellenprozente für Deutsch als Zweitsprache, 200 Stellenprozente für Aufgabenstunde und Begabtenförderung sowie 190 Stellenprozente in den «Gestaltungspool», aus welchem unter anderem grosse oder anderweitig anspruchsvolle Klassen zusätzlich unterstützt werden können. Die Förderung soll individueller auf die einzelnen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler eingehen, das ist gut, weil nicht alle die gleichen Lernziele erreichen müssen, sondern ihre eigenen Erfolgserlebnisse haben können. Manchmal geht es bei einem Kind auch nur darum, dass es sich im Schulkontext aufhalten kann. Gleichzeitig stellt dies aber eine enorme Herausforderung für die Lehrpersonen dar. Das Problem liege nicht etwa bei Kindern mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen, erzählen die beiden Lehrerinnen Cristina D’Angelo und Esther Honauer der Unterstufe im Schulhaus Waidhalde, diese brächten ihre Betreuung sozusagen mit. Es seien die verhaltensauffälligen Kinder, die die grösste Herausforderung darstellten, denn für sie würden keine Ressourcen gesprochen. Die beiden engagierten Lehrerinnen haben für die kommenden zwei Jahre noch die beiden bereits erwähnten grössten Klassen des Schulhauses unter sich: Mit jeweils 25, respektive 26 Primarschülerinnen und -Schüler ist die Kapazität des Schulzimmers mehr als ausgenützt. Man kann sich vorstellen, dass die Präsenz von so vielen Kindern, die noch ganz am Anfang ihrer Schulkarriere stehen und eigentlich alle zuckersüss sind, alles von einem abverlangen. Doch die Grösse der Klasse sei nicht zwangsläufig das Problem, meint Honauer, die zu ihren Anfangszeiten eine Klasse mit 37 Erstklässlern führte. Es sei vielmehr die Zusammensetzung: Es reichen zwei Kinder, die sich nicht in einem ruhigen Setting einfügen können, damit die ganze Klasse nicht mehr funktioniert. Neben der Vermittlung von fachlichen Kompetenzen wie Lesen und Schreiben müssten die Lehrpersonen heute viel öfter auch Miterziehen und die Kinder für die Gesellschaft fit machen. Das sei insbesondere auch deshalb schwierig, weil jede Familie ganz eigene Vorstellungen von Erziehung habe.

Auch einmal Langeweile zulassen

Ein grosses Fragezeichen bildet – und da gehen die Lehrerinnen mit der Schulleitung einig – die frühe Einschulung mit vier Jahren in den Kindergarten. «Es bringt ganz andere Probleme mit sich, wenn die Kinder zum Beispiel noch nicht trocken sind». D’Angelo beobachtet, dass die Eltern heute schnell befürchten, ihre Kinder zu bevormunden. Dabei können sie in diesem Alter viele Dinge einfach noch nicht selber entscheiden», meint die junge Lehrerin, die selber Mutter eines kleine Jungen im Vorschulalter ist. Sie ermutigt die Eltern, auch einmal Langeweile und Nichtstun zuzulassen, auch wenn dies angesichts der grossen Palette an ausserschulischen Aktivitäten natürlich sehr schwierig sei. Honauer, die ihren Beruf seit über 30 Jahren ausübt, hat im Elternrat auch schon dafür appelliert, den Kindern nicht alle Steine aus dem Weg zu räumen, damit sie auch lernen, mit Misserfolgen oder kleinen Frustmomenten umgehen zu können. Einerseits versteht sie die Eltern, die auch nur das Beste für ihr Kind wollen, andererseits wünscht sie sich manchmal mehr Vertrauen in die Fähigkeiten der Lehrpersonen, denn deren Ziel sei eigentlich dasselbe. Der grösste Kritikpunkt liegt für D’Angelo aber an den mangelnden respektive rückläufigen Ressourcen: «Erst ab 28 Kindern über eine längere Zeit erhält man zusätzlichen Halbklassenunterricht, das ist einfach zu spät». Auch wenn sie verstehen könne, dass der Schulleitung und auch der Kreisschulpflege hier durch das geltende Gesetz die Hände gebunden seien, diese Situation sei sehr frustrierend. Immerhin könne man im neuen Schuljahr drei kleinere erste Primarklassen anbieten, die im Durchschnitt 17 oder 18 Kinder pro Klasse haben.

Schulleitungen im «Sandwich»

Auch die Schulleitenden der Waidhalde, Rahel Häsler und Ernst Hüsler, erkennen, dass sich der Lehrerberuf gewandelt hat: Man ist nicht mehr alleine für alles verantwortlich, wie das früher teilweise war, sondern es existiert ein komplexes Netzwerk an Fachstellen und Institutionen, die die Lehrpersonen unterstützen, aber auch eigene Ansichten und Prioritäten einbringen. Die Eltern interessieren sich viel stärker für das, was an der Schule passiert, was schön ist, wie Schulleiterin Rahel Häsler sagt, weil die Themen so auch in die Familie hineingetragen und vielleicht weitergedacht werden. Gleichzeitig sei der Druck auf die Lehrpersonen aber auch stärker, und nicht alle Eltern seien sich bewusst, wie weit ihre Mitsprachekompetenz reiche. Da jeder einmal zur Schule gegangen ist, hat auch jeder ein Bild davon, wie es sein sollte oder eben nicht. Dazu komme, dass die meisten Lehrpersonen einen sehr hohen Anspruch an sich selber hätten und möglichst alle mit guten Leistungen durch die Schulzeit bringen wollten. Die Befürchtungen, dass gute Schüler durch die schwächeren benachteiligt würden, teilen Häsler und Hüsler nicht. Im Gegenteil: Dadurch, dass nicht jeder zur selben Zeit dasselbe machen müsse, könne viel individueller auf die unterschiedlichen Tempi eingegangen werden. Die Schulen und auch die Stadt böten zudem diverse Förderprogramme für begabte Schülerinnen und Schüler an. Die Schulleitungen stehen natürlich vor einem Dilemma: Sie müssen die politischen Verordnungen von oben in ihren Schulen umsetzen und gleichzeitig ihre Lehrpersonen gut begleiten und unterstützen. Sie sind in regen Austausch mit anderen Schulleitungen des Schulkreises und repräsentieren ihre Schule gegen aussen. Die Implementierung des Lehrplan 21 und später der Tagesschulen sind weitere Herausforderungen, die auf sie zukommen.

Zusätzlicher Schulraum geplant

Die Fachstelle für Schulraumplanung der Stadt Zürich prognostiziert für Wipkingen bis 2025 eine weitere Zunahme von gegen 370 Kindern, was bedeuten würde, dass insgesamt 13 zusätzliche Primarklassen notwendig werden würden. In der Schule Letten wurde für das kommende Schuljahr sowohl eine zusätzliche Kindergarten-, als auch eine zusätzliche Primarklasse eingeführt. In der Schule Nordstrasse kommt eine Primarklasse dazu, in der Schule Waidhalde sogar zwei. Stimmen die Prognosen, sollen es in sechs bis sieben Jahren im ganzen Schulkreis mehr als 6000 schulpflichtige Kinder sein. Danach rechnet man damit, dass die Zahlen stagnieren oder sogar wieder abnehmen. Bis dahin sollen unter anderem Holzpavillons den Raumnotstand überbrücken. Waidhalde und Nordstrasse haben bereits solche übernommen. Die Immobilien Stadt Zürich prüft eine Umnutzung des Gebäudes der ehemaligen Textilfachschule an der Wasserwerkstrasse für Schulungszwecke.

Bei so vielen Akteuren und Fachstellen ist es schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen. Sowohl für die Eltern und als auch für die Schulen steht das Wohl der Kinder im Zentrum, aber die Perspektive ist jeweils eine andere: Sandra Stump, Mutter und früher in verschiedenen Elternräten engagiert, hat als Mitglied des Elternkontaktgremiums Waidberg immer wieder erlebt, wie Situationen von Schule und Elternschaft sehr unterschiedlich aufgenommen und interpretiert werden. Für die Eltern sei es eine sehr persönliche Angelegenheit, während die Verantwortlichen der Schule von einer pädagogischen und professionellen Warte aus argumentieren. Diese Diskrepanz biete Potential für Missverständnisse und Konflikte, meint sie. Umso wichtiger ist es deshalb für alle Beteiligten, im Dialog zu bleiben.

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