Tre Fratelli – zwei Abbrüche

In der Dezember-Ausgabe der Wipkinger-Zeitung wurde ausführlich über das Neubauprojekt an der Nordstrasse 180/182 berichtet. Obwohl zwei historische Bauten verschwinden werden, kamen die Auswirkungen auf das Ortsbild nicht zur Sprache. Das soll nun nachgeholt werden.

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Von rechts nach links: Baumeisterhäuser Nordstrasse 174 und 180 und Mehrfamilienhaus Nordstrasse 182/186 um 1910.

Wipkingen ist beliebt. Die Nähe zum Stadtzentrum und Wald, die Lage am Südhang des Käferbergs und das viele Grün sind Qualitäten, die von vielen geschätzt werden. Auch baulich vermag das typische Wohnquartier zu gefallen. Neben den Wohnhäusern aus der Zeit zwischen der Eingemeindung 1893 und dem 1. Weltkrieg sind insbesondere die Bauten aus den 1930er-Jahren stark vertreten. In den flussnahen Gebieten finden sich von Baugenossenschaften erstellte Siedlungen, in den höheren Lagen Einfamilien- und kleinere Mehrfamilienhäuser. Es dominiert eine lockere, wenig dichte Bauweise mit vielen begrünten Freiräumen. Das Ortsbild strahlt kleinbürgerliche Beschaulichkeit und Geruhsamkeit aus und dank dem grossen Anteil an Altbauten sind die Mieten relativ moderat. Kein Wunder zieht es viele Familien hierher.

Gefährdete Qualitäten

Doch der Fortbestand der städtebaulichen Qualitäten ist gefährdet. Die zunehmende Beliebtheit begünstigt den Verlust ebendieser Eigenschaft. Die wachsende Nachfrage verteuert die Bodenpreise, wodurch der Druck auf die älteren Bauten mit ihren grosszügigen Freiflächen wächst. Nach dem Abbruch entstehen Neubauten mit maximaler Ausnützung. Jeder Ersatzbau verändert das Ortsbild und tilgt einen Teil der gebauten Geschichte.

Eines der jüngsten Beispiele für einen empfindlichen Eingriff in das Ortsbild ist der geplante Abbruch und Neubau der Häuser an der Nordstrasse 180 und 182. In der Nummer 182, einem dreigeschossigen, 1895 erstellten Mehrfamilienhaus, befindet sich das Restaurant Tre Fratelli. Bei der Nummer 180 handelt es sich um ein Baumeisterhaus von 1891, welches durch einen dreigeschossigen Neubau ersetzt wird; das gleichaussehende Pendant (Nordstrasse 174) bleibt vorderhand stehen.

Wenig beachtetes Bundesinventar

Dass ein solches Projekt problemlos realisiert werden kann, müsste eigentlich überraschen. Ein Grossteil Wipkingens hat nämlich – was viele nicht wissen – den Status eines Ortsbildes von nationaler Bedeutung. Das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) besteht seit den 1970er-Jahren und umfasst heute 1274 Objekte. Die Nordstrasse 180/182 liegt mitten in einem Gebiet, für welches das sogenannte Erhaltungsziel B gemäss ISOS gilt. Dieses besagt, dass die Anordnung und Gestalt der Bauten und Freiräume zu bewahren und für die Struktur die wesentlichen Elemente und Merkmale integral zu erhalten seien. Der Abbruch von Altbauten sei nur in Ausnahmefällen zulässig, und für Umbauten und zur Eingliederung von Neubauten sollen besondere Vorschriften gelten. Weshalb hier das ISOS wie so oft nicht angewendet wird, lässt sich nur mit einem wohlbekannten Phänomen erklären: Vollzugsdefizit als Folge des fehlenden politischen Willens.

Heimatschutz für den Erhalt

Die Wipkinger Zeitung berichtete im vergangenen Dezember ausführlich und differenziert über dieses Neubauprojekt. Zwar brachte der Autor kritische Aspekte wie Verdichtung, restriktive Bauauflagen, Seefeldisierung und Spekulation zur Sprache, doch äusserte er sich bedauerlicherweise nicht zum Eingriff in das Ortsbild und zum Verlust am baukulturellen Erbe des Quartiers. Es hiess gar, der Heimatschutz hätte nichts gegen den Abbruch einzuwenden gehabt. Diese Aussage stimmt so nicht. Der Stadtzürcher Heimatschutz (SZH) behandelte dieses Geschäft sehr wohl und verlangte bei der Stadt eine Schutzabklärung, doch, weil die beiden Bauten an der Nordstrasse 180/182 nicht inventarisiert sind, wäre das Baurekursgericht auf einen Rekurs des Heimatschutzes mangels Legitimation nicht eingetreten. Einzig aus diesem Grund hat die Organisation auf einen Rekurs verzichtet. Sie bedauert aber den geplanten Abbruch, der nach dem kürzlich abgewiesenen Rekurs aus der Nachbarschaft nicht mehr abwendbar ist.

Unterschätzter Baubestand

Manche werden sich fragen, weshalb Wipkingen in einem Ortsbildinventar des Bundes erfasst ist und warum der Stadtzürcher Heimatschutz diese beiden wenig spektakulären Häuser gerne erhalten hätte. Ein historisch wertvolles Ortsbild besteht nicht nur aus erstklassigen, «schönen» Baudenkmälern, sondern aus dem Zusammenspiel von verschiedensten Bauwerken mit ihrem – unbebauten – Umraum. Das Stadt-, beziehungsweise Ortsbild ist unsere visuell wahrgenommene Umwelt, ist Teil unserer Identität, unserer Herkunft und unserer Geschichte. Es geht also um weit mehr als nur um Ästhetik. Die Nordstrasse 180 und 182 sind gewiss keine architektonischen Juwelen, doch es sind typische, bedeutende Vertreter ihrer Zeit und sie zeugen vom ersten Bauboom Wipkingens am Ende des 19. Jahrhunderts. Ortsbildprägend wirken solche Bauten vor allem dann, wenn sie in genügender Anzahl vorhanden sind. Doch ihre Häufigkeit und «Alltäglichkeit» sind der Grund dafür, dass sie oft nicht inventarisiert sind und daher vermehrt verschwinden – zulasten des Ortsbilds.

50 Jahre Engagement für das bauhistorische Erbe

Das «Tre Fratelli» und das benachbarte Baumeisterhaus stehen für eine Entwicklung, die immer schneller voranschreitet. Wer aufmerksam durch das Quartier geht, entdeckt in vielen Strassen Bauvisiere, Baugruben und oftmals schlecht eingepasste Neubauten. Man mag das als notwendige Substanzerneuerung, als gewünschte Verdichtung oder Aufwertung begrüssen. Man nimmt diese Entwicklung vielleicht mit einem gewissen Bedauern hin als Preis für die – freilich bedrohte – Attraktivität des Quartiers oder man setzt sich dafür ein, dass der ursprüngliche Charakter der Ortsbilder nicht ganz verloren geht. Genau dies tut der Stadtzürcher Heimatschutz seit bald 50 Jahren: Er engagiert sich für ein in Verfassung und Gesetz verankertes öffentliches Interesse.

Eingesandt von Christian Coradi
für den Vorstand des Stadtzürcher Heimatschutzes SZH

1 Kommentare


Laura

29. April 2021  —  19:49 Uhr

Danke für diesen Beitrag!

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