Unfaire Schuldzuweisungen sind demotivierend

Als ich mich Ende der 1980er Jahre aus der Westschweiz herkommend in der Stadt Zürich niederliess, war das zuallererst einmal – neben der Freude, in der grössten Stadt der Schweiz zu wohnen – ein kleiner Kulturschock. In der kleinen Stadt, in der ich während vieler Jahre zuhause war, ging alles etwas rauer, chaotischer, unkomplizierter, mediterraner und lebensfreundlicher zu und her.

Hier in Zürich war die Stadt an den Sonntagen still, ruhig und fast menschenleer. Man musste weit gehen, um eine Beiz zu finden, die offen hatte. Zürich, schien mir, war damals eher eine Schlafstadt.

Lebensfreundlich …

Dies ist heute ganz anders. Meiner Meinung nach hat sich Zürich zu einer lebensfreundlichen, lebendigen Stadt entwickelt – zumindest und ganz sicher Wipkingen. Zürich ist zwar immer noch eine nahezu perfekte, gut organisierte und zwinglianisch streng reglementierte Stadt, einige feine, farbige Risse sind aber doch bemerkbar. Es gibt besetzte Häuser und Areale, die von den Bewohnerinnen und Bewohnern freiheitlich genutzt werden, und es gibt Brachen, die von der Bevölkerung etwas freier, aber nicht vogelfrei bespielt werden können. Auch Wipkingen hat mit dem Parkplatz Letten eine solche Brache. Gemietet hat das Grundstück, das der Stadt Zürich gehört, der Quartierverein, bespielt wird es von einem Team von jungen Frauen und Männern aus dem Quartier. Was das Team an Zeit, Geld, Engagement und Nerven – das Einholen der unzähligen Bewilligungen war kein Spaziergang – investiert hat, ist enorm. Das Ergebnis lässt sich sehen: Entstanden ist ein lebendiger Ort, der Freiraum für viele kulturelle, experimentelle und nichtkommerzielle Initiativen lässt.

… aber auch lärmig

Es gehört zu solchen Initiativen, dass Fehler passieren. An einem schönen, heissen Wochenende vor den Sommerferien wurden die unmittelbaren Nachbarn derart mit lauter Musik beschallt, dass sich Widerstand gegen den Parkplatz Letten formierte. Die Jungen packten den Stier bei den Hörnern und luden die Nachbarn zu einer Aussprache ein. Dabei stellte sich heraus, dass das junge Parkplatz-Team pauschal für alle Lärmemissionen (illegale Parties unter der Kornhausbrücke und Veranstaltungen beim alten Bahnhof Letten, beim Eisenbahnwagen und dem Primitivo) verantwortlich gemacht wurde, die aber auf das Konto anderer Gruppierungen ging. Rund 20 Nachbarinnen und Nachbarn nahmen an diesem runden Tisch teil. Dass ein Viertel der Teilnehmenden das junge Team von vorneherein als alleinige Schuldige abstempelte, ist unfair. Es ist demotivierend für die Jungen in unserer Stadt, es ist nicht Dialog bildend und verbaut den Weg zu konstruktiven Lösungen.

Judith Stofer

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