Quartierleben
Vier Köpfe für ein Halleluja
Schon mal einen ganzen Blumenkohl gegessen? Falls nicht, dann auf ins «The Artisan» in Wipkingen. Dort sind zwei junge Gastronomen am Werk, die für etliche Überraschungen gut sind. Höwi, der Restauranttester dieser Zeitung, hat ihnen in die Köchtöpfe geschaut.
30. März 2016 — Eingesandter Artikel
Die Wipkinger sind zu beneiden. Die haben das «Tre Fratelli», das «Grüntal» und noch einige trendige Lokale mehr. Und eine Piazza mit Boulevard-Café und Bäumen. Aber hallo, Grün Stadt Zürich! Mussten es asiatische Schnurbäume sein? Wegen der hübschen Schmetterlingsblüten? Da hätte man wohl besser Maurice Maggi, den Guerillagärtner, rangelassen! Oder die Leute über den Gleisen. Seit drei Jahren sorgt dort der Verein «Garte über de Gleis» für urbanes Gardening.
Im vergangenen Oktober hiess es dann endlich auch tschüss «Spice India» und welcome «The Artisan». Mark Thommen und Luca Tribò heissen die beiden Gastronomen, die den Schlauch mit der grossen Fensterfront vis-à-vis des «Nordbrüggli» übernommen haben. Die Mischung von einfachen Gerichten wie Schrebergartensalat und trendigen Frechheiten wie Spanferkelbauch-Burger kommt bei den Wipkingern offensichtlich an. Am Mittag findet man noch schnell ein Plätzchen, abends ist der Laden oft pumpenvoll. Applaus Jungs, sowas sollten wir in Höngg auch haben!
Newcomer mit Ambitionen
Anfänger sind die beiden nicht: Luca war unter anderem als Operation-Manager im Schweizer Pavillon in Shanghai und bei Gamma Catering tätig. Dort hat er Mark Thommen kennengelernt. Der gebürtige Schweizer ist in Australien aufgewachsen, stand im «Dolder» und im «Widder» am Herd. Beide träumten von einem eigenen Restaurant. Im Juli 2015 unterschrieben sie den Vertrag, im Oktober war Eröffnung und jetzt, ein halbes Jahr später, gilt das «Artisan» bereits als Geheimtipp bei den Gourmets.
Die Schokoladeseite des «Artisan» ist die gefühlt hundert Meter lange Fensterfront. Ein Schaufenster, das den Blick freigibt auf Blumen- und Gemüsekisten und die pariserisch anmutende Häuserkulisse. Draussen urbanes Feeling à la Montparnasse, innen die «hängenden Gärten der Semiramis»: Das «Artisan» gehört zur Kategorie der «Ich-fühl-mich-sofort-wohl-Restaurants». Auch ohne Wurmlöcher in den Holztischen wirkt es, als würde diese Quartierbeiz seit Jahrhunderten existieren. Auf den Holztischen brennen Kerzen, das Besteck steht griffbereit in einer «Ich-war-mal-eine-Tomatensaucen-Büchse». Ein wenig Mitarbeit darf man von den Gästen ja heutzutage erwarten. Und so kann sich das Servierpersonal ein paar hundert Schritte pro Tag sparen.
Härtetest
Auf was achtet ein knallharter Restauranttester sonst noch? Auf die Servietten! Die sind zwischenzeitlich fast überall aus Papier und an etlichen Orten nicht von Klopapier zu unterscheiden. Die im «Artisan» sind O.K., denn sie haben einen stoffigen Charakter.
Zweiter Knackpunkt: das Brot! Liegt es in genopptem Plastik im Körbchen, ist es Zeit, sich gleich wieder zu verabschieden. Muss man hier nicht. Die Küchencrew bäckt das Brot täglich selber, es ist knusprig, hat Sesam-, Leinsamen- und Sonnenblumenkerne drin. Die Idee, es in Papiertüten zu servieren, ist zwar nicht neu – siehe «Fischers Fritz» in Wollishofen –, aber «affig», wie das einer meiner Kollegen im «Züritipp» schrieb, ist das nicht.
Doch der ultimative Härtetest kommt erst noch: die Salatsauce! Logo, dass sie in einem Lokal, das «Artisan» heisst, dem entspricht. Dass sie dann aber gleich so gut ist, dass Höwi eine Extraportion ordert, um sie mit dem Brot aufzutunken, sagt alles. Das passiert dem Salatsaucenjunkie sonst nur noch in der «Buech» in Herrliberg, wo das Hausdressing mit einem weissen Tomatenfond veredelt wird.
Kulinarische Vielfalt
Man spürt der Menükarte an, dass sich die Macher überlegt haben, was die Gäste wollen. Zum Beispiel etwas Grünes. Klar kommen die Salate nicht aus den Beeten draussen. Aber ein schöner Teil der Menükarte spiegelt das Urban Gardening vor dem Haus. So gibt es Baby-Lattichsalat mit Kombu-Sesam-Dressing. Oder einen Schrebergarten-Salat mit Minze und rohem Gemüse.
Ideal zum Schnabulieren und Teilen sind die Luma-Beef-Meatballs. Das Besondere ist, dass das Fleisch am Knochen abgehangen ist und vier bis sieben Wochen reifen darf. Veredelt wird es mit einem Schimmelpilz, der das Fleisch noch zarter, saftiger und würziger macht.
Aus was für Gründen auch immer hat sich ein Hamburger in die Karte verirrt, wobei man sagen darf: DAS ist ein richtiger Burger, zubereitet aus erstklassigem Angus-Beef und begleitet von einer hausgemachten BBQ-Sauce.
Apropos Fleisch und Blut: Sonntags steht sogar eine hausgemachte Blutwurst auf der Karte, die man als Brunch verspeisen kann.
Dass Kochen als Handwerk verstanden wird, zeigen auch die Pommes. Sie werden von Hand geschnitzt, dann im Salzwasser gekocht, abgekühlt, in Rapsöl bei 140 Grad vorfrittiert, wieder runtergekühlt und à la minute bei 180 Grad frittiert. Bei einer Kür der besten Pommes der Stadt können sie weit vorne mithalten. Und so ist alles im «Artisan»: überraschend, manchmal sogar verspielt, aber immer gut geerdet.
Dazu gehört auch der Knaller des Hauses, die «Artisan-Variation» ab drei Personen. Der Hauptgang ist knusprig gebratener Spanferkelbauch, zur Vorspeise gibt es Schrebergartensalat, Flammkuchen mit Saibling, Kichererbsen-Amaranth-Falafel und Chicken Wings.
Sag’s mit Blumen
Schnee, Regen, Sonne, Schnee, Regen… kein Wunder wollten im März die Pflanzen über den Gleisen noch nicht so recht. Aber der Kohl, der im «Artisan» auf der Karte steht. In der Schweiz hängt er sich noch Blumen vor den Namen, der deutsche bevorzugt Käse, und die Türken ziehen ein Minarett hoch, was dann Minarettkohl ergibt. Zum letzten Mal habe ich ihn als Süppchen im «Tre Fratelli» genossen. Sehr viel früher als Baby wohl auch aus dem Gläschen. Igitt. Und jetzt also einen ganzen!? Mark hat mir erklärt, wie er ihn zubereitet, auswendig, aufs Grad und die Minute genau. Zuerst lässt er ihn sous-vide in einer Bouillon eine Stunde bei 63 Grad garen, dann darf er 15 Minuten in den 210 Grad heissen Ofen und am Schluss noch auf den Grill. Das Resultat sieht super aus und überzeugt nicht zuletzt wegen all der würzigen Zutaten, die den braungebrannten Blumenkohl begleiten. Dazu gehören Hanfsamen-Dukkah, Haselnüsse, Meersalz, Petersilie, Soja-Joghurt, Pfefferminzöl und Granatapfelkerne.
Der Blumenkohl heisst übrigens zu recht so. Lässt man ihn weiter wachsen, dann schiessen überall Stängel in die Höhe, an denen sich gelbe Blüten bilden. Was wir essen, ist also genau genommen der Blütenstand. Mathematiker fasziniert vor allem das Innenleben: Die Sprossen verzweigen sich nämlich in lauter «Bäumchen», die ihrerseits wieder «Bäumchen» bilden.
Beim Romanesco lässt sich dies noch besser beobachten: Hier bilden die Sprossen kleine Türmchen, die wieder Türmchen bilden. Daraus entsteht eine spiralförmige Pyramide, die der Fibonacci-Formel folgt: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13…, zwei Zahlen addiert, ergeben jeweils die nächste. Entdeckt hat Leonardo Fibonacci die Formel hingegen beim Wachstum einer kopulierenden Kaninchen-Population im Jahr 1202.
Endlich mal ein spannendes Bierangebot!
Dass Luca eine Sommelierausbildung hat, spürt man beim Weinangebot des Hauses. Schön, dass der Chasselas von Raymond Paccot aus Féchy offen zu haben ist, bei den Roten würde Höwi den Blaufränkischen von Moric wählen, weil es leider keinen Pinot noir im Offenausschank gibt. Der «Hauterive» von der Maison Carré wäre ein valabler Kandidat, oder?
Vollends ins Schwärmen kommt Höwi beim Bierangebot! Endlich hat ein Restaurant verstanden, dass Bier nicht gleich Stange ist. Das «heilige Bier vom guten Hund» von Jérôme Rebetez aus dem Jura reiht sich in eine Palette weiterer «Craft Biere», getoppt vom schottischen «Brew Dog», einem Black Ale. Tipp: Unbedingt mal ein solches Bier trinken, das öffnet Welten. Rein müsste noch ein Pilgrim-Bier von der Klosterbrauerei in Fischingen. Zum Beispiel das «Grand Cru», das alljährlich neu rezeptiert wird, im letzten Jahr war es ein Imperial Russian Stout.
Kritik?
Klar, die gibt es hier auch, aber nur verhalten, denn diesen Spanferkelbauch, den will der Höwi nach dieser Kolumne in aller Ruhe nochmals essen! Also: Der Name! Ich würde das «The» weglassen, dann funktioniert‘s auch auf Französisch. Passt auch besser zum pariserisch angehauchten Ambiente dieses Plätzchens. Unten flitzen die S-Bahnen durchs Tunnel und oben tönt Oscar Petersons «Night train» durch die Boxen. Muss schön sein, wenn man im Sommer auf der Terrasse den Blumenkohl köpft − mit dem Gefühl, mit der Welt verbunden zu sein. Dann: Es gibt keine Zeitungen! Wohl weil man am Mittag ohnehin nicht überhocken kann. Punkt 14 Uhr schliesst Luca die Glastür. Schade. Doch das sind Spatzenscheisserchen bezogen auf den Gesamteindruck, denn es ist schon so: Ein Restaurant dieser Klasse sollten wir auch in Höngg haben!
P.S.: Im April geht Höwi ins «Pantheon» im Frankental. Es ist ja nicht so, dass wir in Höngg nicht auch ein paar nette kulinarische Tankstellen hätten.
The Artisan
Kitchen & Urban Garden
Nordbrücke 4
8037 Zürich-Wipkingen
044 501 35 71
www.theartisan.ch
Ruhezeit: Montag ganzer Tag und Dienstag bis 18 Uhr.
Am Mittag drei Menüs, Suppe oder Salat inbegriffen, dazu drei Menüs aus der Abendkarte. Mineralwasser gratis, kommt in Flaschen mit Bügelverschluss auf den Tisch.
Er nennt sich Höwi, ist ein stadtbekannter Gastrokritiker und Buchautor und hat sich vorgenommen, den kochlöffelschwingenden Profis im Kreis 10 in die Töpfe zu schauen. In jeder Ausgabe der Wipkinger Zeitung − und in der Zwischenzeit jeweils monatlich im «Höngger». Viel Spass – oder sagt man da besser «guten Appetit»?
Fredy Haffner, Verlagsleiter Quartierzeitung Höngg GmbH
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