Wartsaal Wipkingen soll ein Ort für alle werden

Nun ist es also soweit: Morgen, Freitag, 18. Dezember, schliesst das Reise­büro am Wipkinger Bahnhof. Zumindest als Ticketverkaufsstelle. Der Raum an sich soll der Bevölkerung erhalten bleiben.

Will etwas Gutes gut zu Ende bringen: Regula Fischer vom Bahnhofreisebüro Wipkingen.

«Wenn ich für die Bücher Geld bekommen würde, wäre ich schon lange Millionärin», lacht Regula Fischer und zeigt auf die Bücherbox, die vor dem Reisebüro am Bahnhof Wipkingen steht. Und es stimmt: Im Laufe der nächsten halben Stunde legen mindestens zwei Personen ein Buch in die Kiste und suchen sich eines zum Mitnehmen aus. Das Prinzip: Geben und Nehmen, für alle.

Bis zuletzt auf ein Umschwenken gehofft

Bald zehn Jahre führt Fischer das Bahnhofreisebüro und ist in Wipkingen nicht nur wegen ihrer leuchtend roten Haare bekannt. In dieser Zeit hat es sich zur ersten Anlaufstelle für internationale Bahnreisen entwickelt. Zugreisen, die über die Schweizer Grenze hinausführen, sind alles andere als einfach auf eigene Faust zu buchen. Hier hat Fischer ihre Nische und mit der Deutschen Bahn und später der ÖBB potente Partnerinnen gefunden. Die Klimabewegung, die in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen hat, gab auch den Bahnreisen Auftrieb. Fischer hatte bis zuletzt gehofft, dass die SBB diesen Wandel realisieren und von ihrer Strategie, alles nur noch digital anzubieten, abkommen würde. Zwar liess der neue Chef Vincent Ducrot die Schlies­sung der eigenen SBB-Schalter noch im Oktober vorläufig stoppen. Doch der Wechsel in der Leitung der Schweizerischen Bundesbahnen kam zu spät für das kleine Büro, der Vertrag läuft – wie seit drei Jahren bekannt – Ende 2020 aus. «Wir haben gekämpft, auch mit der Unterstützung von ProBahn, dem Quartierverein und anderen Organisationen», sagt die leidenschaftliche Reiseberaterin, doch die Bundesbahn hielt an ihrem Entscheid fest, machte keinen Unterschied zwischen dem spezialisierten Team in Wipkingen und anderen Drittanbieter*innen wie Migrolino und Avec. «Ich behaupte, unser Todesstoss war, dass wir mit diesen Verkaufsstellen in einen Pott geworfen wurden», sagt Fischer. Man habe nicht erkannt, dass in Wipkingen mehr angeboten werde als Monatsabos und Streckentickets. Doch nun lässt sich daran nichts mehr ändern, die Zeit zu kämpfen ist vorbei.

Auf der Suche nach einem rentablen Geschäftsmodell

Drei Jahre, das war doch bestimmt Zeit genug, sich ein funktionierendes Geschäftsmodel auszudenken, wird sich so manche*r Leser*in denken. «Ich überlege mir seit ich hier angefangen habe, wie sich an diesem Ort ein rentables Geschäft machen liesse», wehrt sich Fischer. Wer Geld verdienen will, muss etwas verkaufen. Gerade an diesem Platz gibt es aber schon drei Grossanbieter, eine Bäckerei, Gastgewerbe, Blumen, Schmuck und Nippes – das Angebot ist gross. Wieso sie den Vorschlag, das Buchungssystem der Appenzellerbahnen zu übernehmen, nicht berücksichtigt habe? «Wir haben uns dieses System natürlich angeschaut», erklärt die Bahnreiseexpertin, «aber damit lassen sich nur regionale Tickets verkaufen. Wir könnten keine Streckenbillette, geschweige denn internationale Reisen anbieten. Heute kann man noch nicht einmal ein Monatsabo für den ZVV damit lösen, und das gehört in Zürich einfach zum Grund­sortiment». Dazu kommt, dass mit der Beratungspauschale der SBB auch ein Einkommenssockel wegfällt, mit dem immerhin ein kleiner Lohn ausbezahlt werden konnte. «Allein mit der Verkaufsprovision liessen sich knapp die Mietkosten decken, Löhne sicher nicht», so Fischer. Also auch keine nachhaltige Lösung für das Bahnhofreisebüro in Wipkingen. Und deshalb ist jetzt Schluss mit dem Ticketverkauf und der Reiseberatung.

Raum für alle öffnen

Es stimmt, dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Lange hatten die Betreiber*innen des Lokals auf ein Umschwenken der SBB gehofft. Doch als schliesslich klar war, dass das nur ein Wunsch bleiben würde – und nachdem ihre Mitarbeiterin Edna Bohnert eine neue Anstellung gefunden hatte – konnte Fischer schliesslich loslassen und in die Zukunft schauen. Seit einigen Jahren haben neben dem Reisegeschäft schon kulturelle Veranstaltungen in diesen Räumlichkeiten stattgefunden: Lesungen, Filmvorführungen, Ausstellungen, Theateraufführungen und Konzerte. Eigentlich hätte dies in diesem Jahr noch vertieft werden sollen – ein Testlauf für 2021. «Wir wollten dieses Jahr nutzen, um uns als Kulturraum auszuprobieren, damit wir, wenn das Büro schliesst, mit einem Konzept für einen Veranstaltungsort auf Geldsuche gehen können. Dass der Raum mit seiner zentralen, aber versteckten Lage perfekt ist für Kleinkunst, kulturelle Veranstaltungen und Kurse, ist unbestritten. Doch dieses Jahr fiel kulturell komplett ins Wasser. Deshalb entschieden Verwaltungsrat Peter Schmid und Geschäftsführerin Regula Fischer, mit dem Gewinn, mit dem sie trotz Corona rechnen, und wenn nötig privaten Mitteln, die Miete für ein weiteres Jahr zu finanzieren und einen neuen Versuch zu starten. Ideen, wie der Ort bespielt werden könnte, sind da. Und aus dem Quartier kommen immer wieder Leute mit Projekten auf sie zu. Mit der Gründung des Vereins Wartsaal Wipkingen soll verschiedenen Bevölkerungsgruppen den Zugang zum Raum ermöglicht werden. «Ich sehe mich dabei aber eher als Geburtshelferin», lacht Fischer. «Da ich mir ohnehin einen neuen Job suchen muss, werde ich mich zurückziehen, sobald alles aufgegleist ist und das Baby selber laufen kann.»

Ungewissheit muss man aushalten können

Auch andere Institutionen liebäugeln mit dem Objekt am Bahnhof Wipkingen. Nachdem 2018 zu erwarten war, dass die SBB den Vertrag mit dem Reisebüro nicht verlängern würde, sprach das Sozialdepartement der Offenen Jugendarbeit Kreis 6 & Wipkingen für die Jahre 2019 bis 2024 einen Betrag von jährlich zusätzlichen 28  000 Franken für die Raummiete zu. «Die frei werdenden Räumlichkeiten bestehen aus mehreren abgetrennten Räumen und bieten dadurch viel mehr Nutzungsmöglichkeiten, als dies heute mit nur einem einzigen Raum der Fall ist», steht in der Weisung des Stadtrats. Markus Soliva, Stellenleiter bei der OJA Kreis 6 & Wipkingen bestätigt dies. Das Interesse sei weiterhin da, doch solange die Mieter*innen bleiben wollen, hat die OJA keinen Anspruch auf die Räume. Auch das Restaurant Nordbrücke habe schon einmal Interesse angemeldet, meint Fischer. Sie ist sich sicher: Ginge der Ort der Öffentlichkeit verloren, gäbe es Ärger im Quartier.

Am Abend des Interviews findet im Wartesaal de Bahnhofreisebüro die Installation «Warten» des iranischen Grafikdesigners Hoseyn A. Zadeh statt. Passend zur Situation, in der sich die Betreiber*innen, aber auch viele andere befinden: «Es ist schwierig auszuhalten, dass man jetzt nicht einfach Gas geben kann», meint Fischer. Mittlerweile falle es ihr etwas leichter, zu warten und zu beobachten, was entstehen kann. Wichtig sei ihr, dass der Raum wandelbar bleibe und offen für alle Anwohner*innen. Das Potenzial ist da, es braucht einfach Zeit. Und diese Zeit haben sie sich nun gekauft. Um etwas Gutes gut zu Ende zu bringen.  

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