Quartierleben
«Wipkingen rules»
Wipkingen verliert mit Richard Wolff einen Stadtrat und gewinnt mit Simone Brander eine Stadträtin. Die politischen Werte und Ziele der beiden langjährigen Lokalpolitiker*innen liegen nah beieinander. Im Interview sprechen sie über den Umgang mit Popularität, Macht und was das Amt der Stadträtin so anziehend macht.
31. März 2022 — Patricia Senn
Am 13. Februar wurde Simone Brander (SP) mit einem Glanzresultat zur Stadträtin von Zürich gewählt. Sie erhielt mehr Stimmen als die ebenfalls gewählten Stadträte Hauri, Leutenegger und Baumer. Im Mai tritt sie ihr Amt an. Obwohl die diplomierte Umweltnaturwissenschaftlerin und Fachspezialistin für Energiewirtschaft aufgrund ihrer Interessen und ihres Leistungsausweises für das Departement ihres Vorgängers Richard Wolff (AL) prädestiniert wäre, liegt es weder an ihr noch an ihm, zu entscheiden, ob sie die neue Vorsteherin des Tiefbau- und Entsorgungsdepartements wird. Sie könne ihre Ziele jedoch auch in anderen Departementen verfolgen, sagt die ambitionierte SP-Frau.
Im Gegensatz zu Brander, die 13 Jahre im Gemeinderat sass, kandidierte Wolff bereits nach drei Jahren für den Stadtratssitz. Durch den Rücktritt von FDP Alt-Stadtrat Martin Vollenwyder und da die SP und die Grünen niemanden ins Rennen schickten, ergab sich für die Alternative Liste die einzigartige Möglichkeit, einen Platz in der Exekutive zu ergattern. Wolff kandidierte und machte – zur Überraschung aller – im zweiten Wahlgang das Rennen gegen den FDP-Kandidaten Marco Camin. «Es war ein wenig wie Asterix gegen die Römer», erinnert sich der abtretende Stadtrat Wolff. «Doch ich empfand keine Angst oder ähnliches – das muss man vorher mit sich klären, denn wenn man sich einmal auf den Weg macht, gibt es kein Zurück». Das sieht Brander ebenso: Sie sei all den Leuten gegenüber verpflichtet, die sich in Fronarbeit für den Erfolg eingesetzt haben, und auch jenen gegenüber, die darauf zählen, dass sie sich im Amt für deren Interessen einsetzt. «Der Respekt kommt später, je nachdem, welches Departement man erhält», sagt Wolff und lacht. Ihm war 2013 das Polizeidepartement zugeteilt worden, kein «Match made in Heaven», wie er rückblickend sagt.
Frau Brander, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Einzug in den Stadtrat. Wie fühlen Sie sich?
Ich freue mich natürlich sehr über die Wahl. Schon die Nomination durch unsere Delegiertenversammlung war ein Vertrauensbeweis. Man hatte sich in der Coronazeit nicht gesehen, ich kannte viele der neuen Delegierten noch nicht persönlich und trotzdem haben sie sich für mich entschieden. Das ist ein schönes Gefühl. Gleich am nächsten Morgen nach der Nomination ging es richtig los mit dem Wahlkampf. Ich erinnere mich, dass ich um acht Uhr ein Fotoshooting hatte, das fast den ganzen Tag dauerte. Während des Wahlkampfs habe ich viele positive Rückmeldungen erhalten, dass das Resultat dann aber so gut ausfiel, hat nicht nur mich überrascht. Die Freude ist riesig, der Respekt vor der Aufgabe natürlich schon da. Es ist ja eher ungewöhnlich, dass man sich für einen Job bewirbt, ohne richtig zu wissen, in welchem Bereich man arbeiten wird. Speziell ist ausserdem, dass ich von ganz vielen Leuten, nämlich dem Stimmvolk, eingestellt wurde.
Der frühere Stadtentwickler Wolff gerät ins Schwärmen, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Zum Beispiel von einem Projekt mit verschiedenen Agglomerationsgemeinden, in dem es darum geht, zu grossen Themen wie Verkehr, Landschaftsentwicklung, Verdichtung über die kommunalen Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Ein wenig wundert man sich schon, wieso er aufhören will. Dann relativiert er und sagt, das seien die Highlights, nicht alles sei gleich spannend. Es sei ein anstrengender Beruf.
Richard Wolff, Sie klingen viel zu begeistert für jemanden, der aufhören will. Wieso treten Sie genau jetzt zurück?
Neun Jahre sind eine gute Amtsdauer und ich bin mit bald 65 im richtigen Alter, um aufzuhören. Zum Glück bin ich noch gesund, so dass ich mich nun den vielen Interessen, die ich neben der Politik habe, widmen kann. Als Stadtrat muss man vieles im Privatleben zurückstecken. Wir haben ein recht enges Zeitmanagement mit vielen Sitzungen und Abendanlässen, da ist es schwierig, ein soziales Umfeld zu pflegen.
Wird Ihnen nicht etwas fehlen?
Ich werde sicher meine Mitarbeitenden, vor allem meine engsten Kolleginnen und Kollegen, vermissen. Mit ihnen habe ich viele interessante Geschäfte bearbeitet und oft auch schwierige Probleme gelöst. Und dann gibt es ein paar Projekte, die ich gerne noch ein Weilchen weiter geleitet oder begleitet hätte. Zum Beispiel die Masterplanung HB/Central, bei der es um die mögliche Neuorganisation von Verkehr und Stadtraum rund um den Hauptbahnhof geht. Dafür freue ich mich darauf zu sehen, wie in den nächsten Jahren all die Projekte, die ich aufgegleist und für die ich mich mit Herzblut und erfolgreich eingesetzt habe, umgesetzt werden, wie das Velovorzugsroutenetz, der Massnahmenplan Hitzeminderung, die Kreislaufwirtschaft, ja vielleicht sogar die CO2-Rückgewinnung und Speicherung, um nur einige zu nennen.
Gab es etwas, das Sie so nicht erwartet hätten, als Sie das Amt 2013 antraten?
Mir war nicht bewusst, wie sehr ich in dieser Position im Fokus der Medien stehen würde. Es hängt sicherlich davon ab, welchem Departement man vorsteht – der Wolff im Polizeidepartement war einfach zu verlockend, da konnte man jeden Tag eine Geschichte schreiben. In Zürich, der Medienhauptstadt, der grössten Stadt der Schweiz, steht die Regierung vielleicht noch stärker unter Beobachtung als anderswo. Das hat mich überrascht. Dass man morgens die Zeitung aufschlägt und nicht weiss, ob einem eine Karikatur von sich selber entgegenspringt. Das kommt vor und ist ehrlich gesagt nicht immer lustig. Aber: Es ist Teil des Jobs und man muss damit umgehen können, denn wie man damit umgeht, bestimmt teilweise den eigenen Erfolg. Wer das nicht kann, sollte aufhören. Es ist nicht gesund.
Simone Brander, Sie wurden in ihrem Job als Dienstleiterin geologische Tiefenlager beim Bundesamt für Energie auch schon persönlich angefeindet.
Ja, und auch im Wahlkampf kam es zu persönlichen Angriffen. Gerade bei den Frauen im Stadtrat konnte man schon früher mitverfolgen, dass diese ganz gezielt angegriffen wurden. Es ist mir klar, dass das passieren kann. Allerdings kann ich als Stadträtin, im Gegensatz zu heute, auf ein Kommunikationsteam zählen, das mich unterstützen wird. Ich bin dann einerseits exponierter, habe dafür aber Hilfe von Fachleuten.
Wolff: Ich finde, in der Schweiz läuft es noch einigermassen zivilisiert ab. In der Regel gewährt man den Politiker*innen einen gewissen Schutz der Privatsphäre, man trennt das Politische vom Privaten. Es gibt jedoch zunehmend Medien, die das ungeschriebene Gesetz verletzen. Natürlich spielt das Ego auch eine Rolle, wenn man sich für ein solches Amt bewirbt. Das bedeutet jedoch nicht, dass man sich alles gefallen lassen muss. Ohne einen gewissen Respekt oder eine Distanz geht es nicht. Wenn die Angriffe auf die Person überhandnehmen, wird es unerträglich, Politik zu machen und dann findet sich bald niemand mehr, der oder die sich für ein Amt zur Verfügung stellen will.
Simone Brander, schreckt es Sie nicht ab, wenn Sie hören, wie fremdbestimmt Richard Wolffs Tage strukturiert sind?
Es geht mir ja heute schon ganz ähnlich: Ich arbeite 80 Prozent beim Kanton Aargau, 30 bis 40 Prozent im Gemeinderat und engagiere mich in diversen Vereinen und Verbänden. Daher kann ich mir schon vorstellen, wie intensiv es wird. Aber ich will das ja, deshalb habe ich mich für diesen Job beworben. Ich möchte etwas bewirken, mitreden, strategische Fragen stellen können, mitentscheiden, das interessiert mich. Mit der Verwaltung zusammenzuarbeiten und die Agenda mitzuprägen.
Denken Sie, das Amt der Stadträtin wird Sie verändern?
Ich würde mich auch verändern, wenn ich nicht Stadträtin wäre. Wir entwickeln uns ja alle irgendwie weiter. Meine Werte und meine politische Haltung werde ich sicher nicht verlieren. Deswegen wurde ich gewählt, von Stimmbürger*innen, die diese Werte teilen und sie in der Regierung verteidigt wissen wollen. Das ist mein Auftrag, sowie es der Auftrag jeder gewählten Politikerin oder jedem Politiker ist, egal welcher Partei sie oder er angehört.
Mit jedem höheren Amt geht mehr Macht einher. Sind Sie eine machthungrige Person?
Mich interessiert Macht, sofern sie mir hilft, die Anliegen der Bevölkerung umzusetzen. Also Macht in Form von Entscheidungsbefugnis, um Einfluss nehmen zu können , so dass Zürich rasch klimaneutral wird. Als Person bin ich mir der Verantwortung bewusst, die Macht mit sich bringt. Zum ersten Mal bemerkt habe ich das, als ich vor vielen Jahren bei einer Aktion auf der Dachterrasse des Amtshauses am Helvetiaplatz stand und 150 Menschen am Boden über ein Megaphon Anweisungen gab, wie sie sich formieren sollten. Wenn Du siehst, dass 150 Menschen genau das machen, was Du ihnen sagst – das ist mir ziemlich eingefahren. Da habe ich zum ersten Mal ein Gefühl von Macht verspürt, das war krass.
Für beide stehen nun also grosse Veränderungen an. Brander hat ihren Job beim Kanton Aargau per Ende April gekündigt und wird ihre diversen Vorstandsaufgaben abgeben. Das heisst auch: Abschiednehmen.
Brander: Wenn man sich schon Jahre oder Jahrzehnte in einer Gruppe engagiert, ist das Aufhören emotional. Da sind Menschen, die ich schätze und von denen ich jetzt Abschied nehmen muss. Beim Wipkinger Verein «Garte über de Gleis» war ich zum Beispiel Präsidentin, dort suchen wir nun eine Nachfolge. Nicht nur aus Zeitgründen, sondern auch wegen der Interessenskonflikte mit meinem Amt. Auch im Gemeinderat, wo wir ein eingespieltes Team sind, haben sich nach 13 Jahren gewisse Traditionen eingebürgert. Es fällt mir nicht leicht, meine Kolleg*innen zu verlassen, das habe ich festgestellt.
Wolff: Ich freue mich darauf, wieder selbstbestimmter über meine Zeit zu verfügen. So habe ich noch keine konkreten Anschlusspläne, sondern möchte erst einmal ankommen, durchatmen und es auf mich zukommen lassen, welche Themen ich angehen möchte. Das ist ein grosser Luxus und eine Qualität. Ich freue mich darauf, wieder Energie und Zeit zu haben, an alte Freundschaften anzuknüpfen und Hobbies zu pflegen.
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