Wipkingen zur Sonderbundszeit

Vor dem Jahr 1848, in dem sich die Eidgenossenschaft ihre neue Verfassung gab, fand in der Schweiz ein Kulturkampf statt, der mit ungeheurer Härte geführt wurde. Vier Wipkinger waren im Herzen des Geschehens dabei. Lehrer Kottinger, Fabrikant Studer, Revolutionär Knoch und Wirt Mahler.

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Die «Schännishalde», benannt nach dem Wirt Emanuel von Schännis in den 1830er-Jahren. Sein Nachfolger Mahler nannte sie um in «Wirtschaft zur Waid». (Aquarell von Heinrich Klonke 1830)
Die Studersche Fabrik und sein Wohnhaus: links die Nummer 83a, die Fabrikantenvilla mit Baujahr 1810, rechts lagen die ehemaligen Fabrikgebäude. (Aufnahme 1944, BAZ)
Lehrer Kottinger wohnte an der Imfeldstrasse 37. Kottinger setzte in den 1830er-Jahren gegen viel Widerstand das neue Sekundarschulgesetz um. (Foto: BAZ)
Der Hof «Neuhaus» in den 1830er-Jahren in einem Aquarell.
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Die Lehrerwahl von 1821

Für die Kirche war die Sonntagsschule entscheidend. Der Pfarrer verkündete jeweils am Sonntag vor Martini, welche Kinder die Prüfung bestanden hatten. Das Examen bestand aus Bibelkunde, biblischen Geschichten, Katechismus und Gebeten. Wer die Prüfung bestand, musste nur die Repetierschule am Sonntag besuchen. Fürs Schwänzen gab es saftige Geldbussen. Vermehrt kamen die Ideen von Johann Heinrich Pestalozzi auf. Statt Unterricht nach Jahrgängen wollte man Schulklassen bilden, Stoffpläne modernisieren und vor allem in der Volksschule eine Schulpflicht für alle Kinder einführen.

Die Kirchenvertreter waren deswegen nicht glücklich; ihnen würde die Obhut über die Kinder entgleiten. Insbesondere kämen die Fächer Bibelkunde und Katechismus ins Hintertreffen. Der kirchliche Widerstand gegen Pestalozzis Ideen war subtil, aber hart. Lehrerseminare gab es damals nicht. Die Lehrer hiessen offiziell Schulmeister, angesprochen wurden sie mit «Herr Lehrer». Sie waren sehr unterschiedlich befähigt. Eine regelrechte Landplage waren gewalttätige Schulmeister, welche die Kinder prügelten und demütigten. Als der Dorflehrer Heinrich Siegfried einmal mehr ohne ersichtlichen Grund eine Schülerin mit dem Stab so hart geschlagen hatte, dass der Stab zerbrach und die Schülerin zum Doktor musste, setzte ihn der Erziehungsrat ab.

Pfarrer Hans Georg Finsler verkündete 1821 von der Kanzel herab, dass ein neuer Schulmeister gesucht werde. Drei Wipkinger Bürger meldeten sich, zwei zogen nach Kritik des Stillstandes (der Vorläufer der Kirchenpflege) ihre Bewerbung zurück. Ein Dritter bestand die Aufnahmeprüfung, wurde aber vom Erziehungsrat wegen seines jugendlichen Alters von 17 Jahren als nicht wählbar erklärt. Der Stillstand schrieb die Stelle erneut in den Zeitungen aus. Auf die Annoncen in der «Zürcherischen Freitagszeitung» und dem «Zürcherischen Wochenblatt» meldeten sich drei Personen. Zwei Bewerber kamen in die engere Wahl, Amman von Obermeilen und Johannes Weber von Ebertswil.

Pfarrer Finsler schätzte Bewerber Amman sehr, da er ausgesprochen religiös war. Die meisten Stillständer zogen Weber vor; als Argument gegen Amman konnten sie natürlich nicht ihre Meinung kundtun, er sei frömmlerisch, es hiess vielmehr, Amman verströme «einen unangenehmen Geruch aus dem Munde».

Ammans Wahl war für Finsler beschlossene Sache, aber zwei Stillständer weibelten bei jedem Erziehungsrat persönlich für ihren Kandidaten. Sie traten dabei ausdrücklich als «Vertreter der ganzen Vorstehschaft und der Gemeinde» auf, was gelogen war. Wahrscheinlich durchschauten die Erziehungsräte das Manöver, aber die Wahl zwischen einem pfaffenhörigen Frömmler und einem modernen Erzieher fiel zugunsten der Moderne aus. Pfarrer Finsler akzeptierte die Wahl, aber er konnte sich nicht damit abfinden und trat nur zwei Jahre später ausdrücklich wegen Lehrer Weber vom Amt zurück.

Der 23-jährige Weber legte sich ins Zeug. Seine Schüler*innen bestanden das erste Winterexamen mit Bravour. «Der Schulmeister hat in der kurzen Zeit seit seinem Amtsantritt schon Bedeutendes geleistet und es wurde freudige Hoffnung für die Zukunft ausgesprochen», schrieb der Stillstand in einem Schulprotokoll.

Im Jahr 1831 trat nach einer Volksabstimmung die neue kantonale Verfassung in Kraft. Zürich mutierte zum souveränen Stand der Eidgenossenschaft. Liberale Kräfte forcierten die Bildung, sie stärkten die Volksschulen und gründeten ein Lehrerseminar. Bald gab es neue Schulbücher mit weltlichem statt religiösem Lernstoff. In kirchlichen Kreisen und in der Landbevölkerung wuchs der Widerstand.

Lehrer Kottinger und der Bildungszwist

Woher er kam, wusste keiner so recht. Man munkelte, er sei ein entlaufener Mönch. Er passte nicht so recht in die kleine Zürcher Vorortsgemeinde. Mit seinem Rigorismus passte er aber in den herrschenden Kulturkampf, insbesondere in die Revolution im zürcherischen Schulwesen in den 1830er-Jahren. Nach heftigem Widerstand und einem turbulenten Wahlkampf setzte 1833 das Volk in einer Abstimmung ein neues Sekundarschulgesetz durch. Das neue Schulgesetz entmachtete den Stillstand. An seine Stelle trat erstmals eine Schulpflege aus gewählten Volksvertretern. Die «Schulmeister» hiessen nun offiziell «Schullehrer», die Volksschule war obligatorisch, und ein neuer Stundenplan war Pflicht.

Die Gemeinde wählte Markus Kottinger, aus Uster zugezogen, zum ersten Sekundarlehrer. Er hatte sich auf eine Annonce in der «Zürcherischen Freitagszeitung» vom 13. März 1837 gemeldet. Die Annonce zeigt, welch tiefgreifenden Wandel das Land in den 16 Jahren seit der Wahl Webers durchgemacht hatte. Nicht mehr Schulmeister, sondern Lehrer wurden gesucht für das geplante Sekundarschulhaus im Röthel: «…ein Lehrer und eine Lehrerin», welche «die Lehrfächer … die in §. 4. des Gesetzes betreffend die höheren Volksschulen» umsetzen sollten.

Die Lehrerin hatte ein Mindestpensum von acht Stunden garantiert bei einem Lohn von 240 Franken. Das Wichtigste: Die Bewerbungen gingen nicht mehr zuhanden des Pfarrers wie 1821, sondern an den Präsidenten der Sekundarschulpflege, Regierungsrat Schäppi. Es mag als Detail erscheinen, aber es ist das Ergebnis eines epochalen Kulturkampfes: Die Politik entschied neu über Schule und Schulstoff, nicht mehr die Kirche.

Kottinger setzte das neue Gesetz in tiefster Überzeugung und voller Energie um. In der Sekundarschule richtete er Blockzeiten ein. 1837 unterrichtete Lehrer Kottinger 21 Knaben und 11 Mädchen. Nebst herkömmlichen Fächern wie Religion, Deutsch und Französisch gab es nun Zahlenlehre, Arithmetik und Geometrie, Geografie, Geschichte und vaterländische Staatseinrichtung, Naturkunde mit besonderer Rücksicht auf Landwirtschaft und Gewerbe, Gesang, Zeichnen und Schönschreiben. Unerhört für viele waren die «angemessenen Leibesübungen» für Knaben und Mädchen auf der Wiese hinter dem Schulhaus an der Röthelstrasse. An der frischen Luft sollte der Turnunterricht Gesundheit, Stärke und Geschmeidigkeit fördern; Mädchen und Knaben gemeinsam.

1853, viele Jahre nach dem Sonderbundskrieg, nahm Kottinger eines Tages Ferien und ward nie wieder gesehen – mitsamt Familie war er nach Amerika ausgewandert. Hundert Jahre später finden sich Spuren über ihn. Im August 1934 schrieb die NZZ ein Porträt zur 100-Jahr-Feier der Sekundarschule Uster. Sie war aus der Ustertagbewegung herausgewachsen: «Als erster Lehrer war der ehemalige katholische Geistliche Kottinger, ein Flüchtling aus Mähren, gewählt worden».

Offenbar ging es nicht lange gut, denn «bald kam aber eine Gegenströmung auf, der Lehrer fand den Kontakt mit Pflege und Gemeinde nicht und wurde 1837 erster Lehrer der Sekundarschule Wipkingen». In einem anderen Bericht hiess es, «der erste Lehrer, Kottinger, soll ursprünglich Mönch gewesen sein und wanderte später nach Amerika aus».

In der Chronik der Stadt Zürich vom Juni 1903 steht ein Hinweis, wie Kottinger seine neue Heimat fand. In einer Auflistung zur Vergabe des Landrechts – eine Art Aufenthaltsbewilligung mit reduziertem Stimm- und Wahlrecht –, ist auch der Sekundarlehrer vermerkt: «Hermann Maurus Kottinger, Urbau-Mähren, Sünikon-Uster, Skdrlehrer, Ldr. geschenkt 1834.» Offenbar stammte er ursprünglich aus Vrbovec, deutsch Urbau, einer kleinen Gemeinde in Tschechien. In Urbau gab es einst das Kloster Bruck, welches bereits 1784 aufgelöst wurde.

Sein Geburtsjahr war 1803, als entlaufener Mönch aus einem Kloster kommt er nicht infrage. Dem Ustemer Sekundarlehrer wurde das Landrecht geschenkt, drei Jahre bevor er die Stelle in Wipkingen antrat. In Wipkingen erhielt er dann die Bürgerrechte.

Die Klosteraufhebungen


Was einen Krieg auslöst, ist nicht immer die Ursache dafür. Die Klosteraufhebungen im Aargau führten letzlich zum Sonderbundskrieg. Die Ursachen dafür lagen aber tiefer. Es ging um den Gesellschaftsvertrag. Was gilt; Völkerrecht oder Naturrecht? Wer hat das letzte Wort? Wer entscheidet? Der Souverän? Das Parlament? Der Papst? König? Gott?
Es ging in der Eidgenossenschaft um dieselbe Frage wie bei der Lehrerwahl in Wipkingen. Man wollte das Verhältnis von Kirche und Staat neu regeln.

Die Kirche, insbesondere die katholischen Kantone, wollten ihre Macht nicht hergeben. Weite Teile des privaten Lebens waren mit Kirchengesetz geregelt, von Feiertagen, Essensgewohnheiten über Ehegesetze bis zu Schulpflichten und Lehrplänen. Anfang der 1830er-Jahre spitzte sich der Konflikt zu. Der liberale Kanton Luzern verlangte eine Konferenz und lud einige Kantone nach Baden ein.

An der Konferenz 1834 beschlossen die anwesenden Kantone Besteuerung der Klöster, zivilgesetzliche Zulassung konfessionell gemischter Ehen, Beschränkung der arbeitsfreien kirchlichen Feiertage, Unabhängigkeit vom Papst sowie staatliche Kontrolle über die Kirchen und Priesterseminare. Diese «Badener Artikel» – ohne Tagsatzungsbeschluss oder Rechtsgrundlage – lösten geharnischte Reaktionen aus bei katholischen Kantonen. Der Papst verurteilte sie in einer Enzyklika scharf. Frankreich und Österreich verlangten die Rücknahme der Artikel und drohten mit militärischen Mitteln, wenn die Klöster besteuert oder gar aufgehoben werden.

Die Klosteraufhebung entgegen den Kantonsverfassungen von 1815 waren für die europäischen Mächte ein klarer Casus Belli. Volksabstimmungen dazu waren selbstverständlich verboten und wurden auch von der Entente den eidgenössischen Kantonen untersagt. Die Aargauer Regierung ging forsch vor. Sie stellte die Klöster 1835 unter staatliche Verwaltung und schloss mehrere Klosterschulen.

Im Januar 1841 forderte der Seminardirektor Keller im Aargauer Grossen Rat die Schliessung sämtlicher Klöster. Bei der Abstimmung wurde nachgeholfen. Der Sitzungstermin war so knapp angesetzt, dass die katholischen Volksvertreter aus dem Freiamt gar nicht teilnehmen konnten. Der Rat foutierte sich um Einsprachen und Beschwerden und setzte den offensichtlich rechtsmissbräuchlichen Beschluss um. Zwei Bernische Regimenter wurden aufgeboten. Nonnen und Mönche erhielten eine Frist von 48 Stunden, ihr Kloster zu verlassen. Alles wurde konfisziert, aber nichts zerstört.

Was in Wipkingen mit der Wahl der Lehrer Weber und Kottinger im Kleinen passierte, geschah im Land im Grossen. Der Klosterschliessungsbeschluss verstiess gegen Gepflogenheiten, gegen alle Regeln und auch gegen die Verfassung von 1815. Die katholischen Kantone waren komplett schockiert, ebenso der Papst und die europäischen Mächte, die eine sofortige Wiederherstellung verlangten.

Fabrikant Studer und der Straussenhandel

Der Letten war in den 1830er-Jahren ländlich geprägt mit Weiden, Feldern und Baumgärten. Nebst den Höfen und Wohnhäusern standen hier auch die stattlichen Landsitze. Kaufmann Kahlbaum wohnte hier, Seidenfabrikant Cornetz, Professor Wyss und Fabrikant Studer. Die Nummer 82a (heutige Wasserwerkstrasse 141) war ein Wohnhaus, 82b eine Kattundruckerei. Bei Nummer 83a (Wasserwerkstrasse 142) handelt es sich um die Fabrikantenvilla. Die Fabrikgebäude befanden sich auf dem Areal des heutigen Flussbades Unterer Letten.

Das Studersche Fabriketablissement färbte und bedruckte Stoffe. Studer war einer der mehreren äusserst erfolgreichen Wipkinger Industriellen (siehe «Wipkinger Zeitung», Ausgabe 3/2017). Die Fabrikanten handelten mit Baumwolle, färbten Tücher und Stoffe und produzierten edle Indienne-Ware. Studer war in der Gemeinde Wipkingen politisch engagiert, zudem Kantonsrat. «Der Vater namentlich war feurig, stark radikal, doch dabei ehrenhaft; zur Zeit des Straußenhandels war er ein begeisterter Anhänger der Straußenpartei», schrieb Conrad Escher in der Wipkinger Chronik über ihn.

Sein Sohn, ebenfalls Heinrich getauft, war später Regierungsrat, erster Kantonalbankpräsident und Nordostbahndirektionspräsident. Fabrikant Studer war eine treibende Kraft im «Straussenhandel» und begeisterter Verfechter der «Straussenpartei». Der deutsche Theologe David Friedrich Strauss wurde an die Universität berufen. Strauss war Reformtheologe aus Tübingen, er sollte als Professor für Dogmatik und Kirchengeschichte auch die Kirche erneuern.

Er veröffentlichte eine Schrift «Das Leben Jesu». Darin beschrieb er die Wunder Jesu als Mythen. Dies rief heftigsten Protest hervor aus kirchlichen und konservativen Kreisen, insbesondere bei der Landbevölkerung. Es gab Aufstände und ein Gegenkomitee setze durch, dass Strauss noch vor Antritt des Lehrstuhls in den Ruhestand treten musste.

Fabrikant Studer und der Lehrer Kottinger vertraten die Professur vehement. Kottinger verfasste 1839 eine Schrift «Doktor Strauss und seine Lehre», in der er das Leben und die Lehre des Reformtheologen erörterte auf Basis der liberalen Verfassung von 1831, welche Glaubensfreiheit, Volkssouveränität und Säkularisierung des Bildungswesens vertrat.

Die Schrift des Sekundarlehrers war auch in Wipkingen ein Skandal, auch wenn er viel Rückhalt in Teilen der Bevölkerung hatte, insbesondere von Fabrikanten wie Heinrich Studer. Die Opposition nahm in der Landbevölkerung Fahrt auf. Der Glaubenskampf endete schliesslich in einem Aufstand des Landvolkes und ging als «Züriputsch» von 1839 in die Geschichte ein.

Am 6. September 1839, einem Freitag, trafen die über 2000 Bewaffneten in Zürich ein. Sie kamen bis Oberstrass. Es gab 14 Tote bei den Unruhen. Der Aufstand richtete sich gegen Leute wie Studer und Kottinger, die den Ketzer Strauss als Theologieprofessor ernennen wollten. Bemerkenswert ist die Reaktion von Heinrich Studer auf den bewaffneten Aufstand, der leicht in einen flächendeckenden Bürgerkrieg hätte ausufern können. Am folgenden Montag, dem September, tagte der Grosse Rath (heutiger Kantonsrat) um halb zehn Uhr im Grossmünster. Die Sitzung verlief tumultuös. Heinrich Studer, überall als «feurig, stark radikal» bezeichnet, blieb besonnen.

Sein Antrag lautete: Es sei «eine Amnestie über alles Vorgefallene auszusprechen, die vorörtlichen Geschäfte an die Tagsatzung überzutragen», weiter «aus der Mitte des Gr. Rathes eine Commission zu ernennen mit Vollmacht» und anschliessend «in allen politischen Gemeinden abstimmen zu lassen, ob der jetzige Gr. Rath abtreten und von einem neuen die Behörden erneuert werden sollen». Das Wichtigste an seinem besonnenen Antrag war, ausdrücklich keine eidgenössischen Truppen aufzubieten. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Aufstand mit Truppen niederzuschlagen. Dazu kam es nicht, der Staatsrat beschloss die Selbstauflösung und setzte Neuwahlen an. Es blieb unruhig, aber weitgehend gewaltlos. Erst 1845 kamen wieder liberale Mehrheiten an die Macht.

Schütze, frei, bewaffnet

Die Schützentradition wurde hochgehalten. Die meisten erwachsenen Männer waren Mitglied in einem Schiessverein. Fabrikant Studer muss ein guter Schütze gewesen sein, am Eidgenössischen Schützenfest vom 4. Juli 1844 in Basel belegte Studer den 3. Rang und wurde mit einem Gemälde im Wert von 1400 Franken geehrt. Für selbiges wurde ihm aus Paris 6000 Franken geboten.

Er verkaufte es nicht und schenkte es später der Allgemeinheit. «Wir wissen nun gewiss, dass Hr. Kantonsrath Studer in Wipkingen das schöne Oelgemälde (Schlacht bei St. Jakob) zur nächsten Kunstausstellung im Hochschulgebäude hier darleihen wird», schrieb eine Zeitung später.

Studer starb im Dezember 1853, erst 60 Jahre alt. Nur acht Tage zuvor war sein Sohn verstorben. Sein neues Amt als Verwalter des Kantonsspitals konnte er nur noch kurze Zeit ausüben. «Der rechtschaffene Mann, der hienieden keine Ruhe finden konnte, möge nun im Jenseits den ewigen Frieden finden», hiess es in einem Nachruf.

Revolutionär Knoch und die Radikal-Liberalen

In den schwierigen Zeiten entwickelte sich die Gemeinde trotz aller Unbill erstaunlich. Die «Zürcherische Freitagszeitung» annoncierte im Mai 1837 «den Verkauf aus freier Hand»: «Der Gütergewerb zum Neuhaus in Wipkingen, bestehend aus einem doppelten Wohngebäude, Scheune, Trotte und einem Waschhaus, dabei ein laufender und ein Sodbrunnen, ferner 16 Juch. Land um das Haus herum, dann zwei Juch. Holz und Boden und einen Anteil an der Corporations-Waldung»; dies alles «in der frohmüthigsten Lage». Ein prächtiger Hof im Herzen Wipkingens.

«Die Schweiz, diese befestigte Kloake»

Aufstände und Unruhen tobten in Europa. Revolutionen und Niederschlagungen wechselten sich ab. Es war eine gewalttätige Zeit. Viele flüchteten in die Schweiz, Tausende aus Frankreich und Deutschland. Es waren Revolutionäre, abgesetzte Professoren, desertierte Soldaten, aber auch Vagabunden und Abenteurer aller Couleur. Im Gefolge tauchten Spitzel, Spione und Überwacher auf aus Preussen und Österreich. Es gab einen Befehl vom österreichischen Staatskanzler Fürst Metternich an die Schweiz, die «schlimmsten Köpfe» auszuweisen, so etwa Wilhelm Snell, radikal-liberaler Revolutionär und Naturrechtler und erster Rektor der Universität Bern. Die Schweizer Behörden ignorierten den Befehl.

Den Grossmächten war die Schweiz verhasst und unheimlich zugleich. Der revolutionäre Geist breitete sich aus. Die Kaiser, Könige, Fürsten, Bischöfe und Adlige, allesamt Herrscher von Gottes Gnaden, wurden nervös. Die Grossmächte blickten auf die Schweiz. Metternich diagnostizierte die Schweiz als gefährliches soziales und politisches Laboratorium mit hohem Ansteckungspotenzial. Ebenso war die Sorge gross wegen der Schweiz als Fluchtort und Auffangbecken für Revolutionäre. Sein Ziel war die Säuberung der «befestigten Kloake Schweiz».

Einer der vielen Flüchtlinge war Philipp Knoch, der im «Neuhaus» wohnte. Er war ein eingewanderter Revolutionsflüchtling aus Hirschberg an der Saale, Thüringen. In den schwierigen Zeiten war er eingewandert, da er als Anhänger der freiheitlichen Bestrebungen seiner Heimat als Radikal-Liberaler galt und verfolgt wurde.

Er sei «in Untersuchung gezogen», also in Thüringen in Haft genommen worden. In Wipkingen war er weiterhin aktiv als Radikal-Liberaler, auch wenn er kein öffentliches Amt inne hatte. «Allerlei bedeutende Männer, meistens Gesinnungsgenossen aus der 1848er-Zeit, die in Zürich eine Heimat gefunden hatten, verkehrten in dem allseits gastfreundlichen Hause», schrieb Conrad Escher in der Wipkinger Chronik über Knoch. Unter anderen war Professor Zeuner oft zu Gast bei ihm. Nach dem Professor für Mechanik und theoretische Maschinenlehre am Polytechnikum ist die Zeunerstrasse benannt.

Auf seinem Hof Neuhaus experimentierte Knoch, offenbar mit Erfolg, an Maschinen, neuen landwirtschaftlichen Techniken, an Düngemitteln und Pflanzenzucht. Sein Sohn wurde später Pfarrer in Uster. Knoch war Gründungsmitglied der GGW, der Gemeinnützigen Gesellschaft Wipkingen, dem heutigen Quartierverein. Diese ehrte in einem Jahresbericht den einstigen Revolutionär in den höchsten Tönen: «Seit der Gründung unserer Gesellschaft hat er daselbst angehört.»
An den Sitzungen habe er selten gefehlt. Reden habe man ihn wenig gehört. «Aber umso mehr war er ein Mann der Tat. Der Mann einer tief humanen Gesinnung, wie sie das Ideal unserer Gesellschaft ist», hiess es im Nachruf. 1878 schenkten seine Erben der Gemeinde Wipkingen nach seinem Tod 1000 Franken für verschiedene Anstalten.

Wirt Mahler und die Befreiung aus dem Kesselturm

Joh. Jakob Mahler, gelernter Spenglermeister, kaufte 1846 das Waidgut. Mit Wirt Mahler begann die Glanzzeit des Waidguts als Aussichtsplatz und Vergnügungsort. Wie aufgeheizt die allgemeine Volksstimmung und wie tief der Jesuitenhass ging, zeigte ein Volksfest am 29. August 1847 auf der Waid, wenige Wochen vor dem Sonderbundskrieg. Beim «Sängerfest der Vereine des Limmatthals» fanden sich über 200 Sänger zum gesanglichen Wettbewerb ein, bei «vollkommen befriedigendem Resultat».

Man erhob sich zum Toast auf den Sängervater Nägeli. Anschliessend erhob sich ein Lehrer aus Albisrieden zum politischen Parteitoast; unter grossem Beifall «trug er seine Weisheit zum Besten, dass ohne Vertreibung der Jesuiten und Auflösung des Sonderbundes kein Friede möglich sei».

Die Klosterschliessungen hatten zu Opposition der katholischen Kantone gegen die Säkularisierung des Staatenbundes geführt. Die politische Reaktion der innerschweizer Kantone war heftig. In Luzern und in Freiburg wollten die Jesuiten die Klosterschliessungen nicht hinnehmen. Die Jesuiten in Luzern restaurierten ihre Klöster wieder und setzten Geistliche der «Gesellschaft Jesu» als Lehrkräfte in den Schulen ein. Sieben Kantone beschlossen den Austritt aus der Eidgenossenschaft, falls die Aargauer Klöster nicht wieder hergestellt würden. Sie sondierten gar bei den europäischen Grossmächten Frankreich und Österreich zwecks militärischer Unterstützung.

Dies war der Auslöser der berühmten Freischarenzüge. Liberale Hitzköpfe marschierten als bewaffnete Miliz Richtung Luzern. Es verlief chaotisch, nach kleinen Gefechten im Dezember 1844 bei Emmenbrücke fiel der Freischarenzug auseinander und die unorganisierten Milizen zogen heimwärts.

Im Kanton Luzern brach fast ein Bürgerkrieg aus; der Hass gegen die Jesuiten stieg ins Unermessliche. Es gab Anti-Jesuiten-Vereine, Petitionen, Demonstrationen und lokale Unruhen. Am 31. März 1845 sammelten sich erneut 3500 Milizionäre, darunter der Dichter Gottfried Keller, der spätere Bundesrat Ochsenbein als militärischen Führer und der Luzerner Regierungsrat Jakob Robert Steiger. Sie marschierten bewaffnet gegen Luzern. Auch dieser Feldzug scheiterte. Die luzernischen Truppen verhafteten eine der führenden Figuren, Jakob Robert Steiger, und verurteilten ihn zu Tod durch Erschiessen. Die Todesstrafe wurde umgewandelt in lebenslängliche Galeerenstrafe.

Ein Schelmenstück erster Klasse

Steiger lag im Luzerner Kesselturm in Ketten. In Zürich war die Wut grenzenlos. Wirt Gross vom Café Littéraire, der als Leutnant beim zweiten Freischarenzug am Gefecht bei Luzern teilgenommen hatte, beschloss mit Kameraden, Steiger zu befreien. Er kontaktierte die Ehefrau Steigers, die weit fortgeschrittene Pläne mit Verbündeten hatte. Die Legende geht so: «Zwei Tage später erhielt Gross von der Frau Steiger einen Brief, in welchem sie bat, er möge noch einmal kommen und 6000 bis 8000 Franken mitbringen». Da Gross nur 2000 Franken hatte, bat er den zufällig neben ihm sitzenden Gast, Mahler von der Waid, um Unterstützung.

Nach einigen Bedenken «kehrte Mahler in aller Eile nach Hause zurück und brachte Gross die 6000 Franken». Dieser bestellte sofort zwei Fuhrwerke und fuhr ohne Halt nach Luzern. Die Wachen wurden bestochen, Steiger befreit; und dieser kehrte triumphal nach Zürich zurück.

Historisch gesichert ist, dass die drei namentlich bekannten Wächter im Kesselturm für Steigers Flucht insgesamt 10 000 Franken erhielten (rund 700 000 Franken in heutigem Geld) und Luzern natürlich fluchtartig verliessen. Einer der Organisatoren der spektakulären Flucht, der spätere Bundesrat Ochsenbein, bestätigte die Befreiung aus dem Kesselturm in einem Brief, «…die Summe wurde uns aus Geldern, die in allen Kantonen flossen, ersetzt».

Die Befreiung war ein Schenkelklopfer und erheiterte die liberalen Kantone aufs Äusserste, so wie sie den Sonderbund desavouiert hatte. Nach dem Sonderbundskrieg kehrte Steiger nach Luzern zurück und wurde Mitglied der verfassungsgebenden Kommission. Die besiegten Kantone wurden nicht gedemütigt, es gab keine Exzesse, weder Brandschatzungen noch Plünderungen. Der politische Ausgleich gelang und machte den Weg frei zur modernsten, liberalen Verfassung in Europa.

Was auch immer Dichtung und Wahrheit sein mag an der Anekdote der Finanzierung – sie machte damals die Runde und der erzliberale Wirt Mahler von der Waid durfte sie noch manche Male an manchem Sängerfest auf der Waid erzählen.

Quellen

Die Kolumnen der «Wipkinger Zeitung» sind als Buch erschienen:
Martin Bürlimann, Kurt Gammeter: «Damals – Wipkingen, ein Bilderbogen», Wibichinga Verlag, 2023.

Markus Kottinger: «Doktor Strauss und seine Lehre», 1839.

Albert Heer: «Der Sonderbund», Verlag von Ed. Schäubli, Zürich 1913.

Rolf Holenstein: «Stunde Null», Echtzeit, 2018.

Nachlass Jakob Frei, Stadtarchiv.

Angaben zu den Häusern von Staschia Moser, Baugeschichtliches Archiv BAZ.

1 Kommentare


JB Rösli

25. Juli 2023  —  19:04 Uhr

so en guete Artikel

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