Schon vor elfhundert Jahren gab es Kleingedrucktes

Der Ostfranken-Kaiser Karl der Dicke wird in Geschichtsbüchern stets als etwas beschränkt hingestellt. Von ihm stammt die Schenkungsurkunde des Fraumünsterlehens Wibichinga aus dem Jahr 881. Im lateinischen Text steht allerdings einiges zwischen den Zeilen. Man lese also die Urkunde nochmals genau durch.

Kaiser Karl der Dicke gibt im Jahr 881 den Weiler Wibichinga seinem Getreuen Wolfgrim zu lebenslänglicher Nutzniessung. Der Text klingt reichlich pathetisch, ist aber sorgfältig und weitsichtig formuliert. Das Aussergewöhnliche hinter der schwülstigen Sprache ist, dass die Interessen der Hörigen mit berücksichtigt sind. Diese Urkunde legte das Fundament für eine jahrhundertelange, gedeihliche Entwicklung des Fraumünsterlehens Wibichinga.

Einst lebten hier helvetische Kelten, dann blühte Turicum auf, derweil am lieblichen Hang vor den Toren eine Römervilla stand. Dreihundert Jahre später siedelte hier ein Alemanne namens Wipko, Wibicho oder ähnlich und benannte seinen Weiler nach ihm selbst. Mit dem Ende des Römischen Reiches endete auch die Pax Romana – und es blieb fünfhundert Jahre lang dunkel.

Das 9. Jahrhundert war turbulent, aber Wohlstand und längere Perioden von Frieden kamen. Die Menschen waren einigermassen frei und hatten Rechte. Handwerk entwickelte sich, grosse Bauten entstanden, vor allem Kirchen. Ein Strassennetz wurde gebaut, es gab Kunst und Kultur. Turicum war in das karolingische Münzsystem einbezogen.

Die geschriebene Geschichte Wipkingens beginnt 881 mit einem Urenkel Karls des Grossen, dem Kaiser Karl dem Dicken. Es wurden Klöster gegründet und ausgebaut. Karl der Grosse gilt auch als Begründer des Zürcher Grossmünsters. Vor den Toren der Stadt baute man Häuser aus Holz und Stroh, beackerte die Felder und pflegte Vieh, Wald und Wiesen.

Die «civitas turegum» profitierte von den Karolingern. Ludwig der Deutsche, auch ein Karolinger Kaiser, gründete 853 das Fraumünsterkloster. Er schenkte seiner ältesten Tochter Hildegard ein kleineres Kloster, das an der Stelle des heutigen Fraumünsters stand. Das Kloster war den Stadtheiligen Felix und Regula geweiht. Die Schenkung war verbunden mit Ländereien im Urnerland, im Sihlwald, bei Cham und Horgen.

Der dritte Sohn Ludwigs des Deutschen hiess Karl III., geboren 839. Er war ein Urenkel Karls des Grossen. Vermutlich besuchte er schon als Kind seine Verwandten im Fraumünster. Bei der Reichsteilung sprach ihm sein Vater das ostfränkische Reich zu, dessen Regentschaft er nach dem Tod des Vaters übernahm. Am 12. Februar 881 wurde Karl III., genannt Karl der Dicke, zum Kaiser gekrönt.

Das Lehenssystem

Unter Karl dem Grossen verbreitete sich die grundherrliche Betriebsform in den Kloster- und Königsgütern. Es war ein Lehens-
wesen, welches Kriegern eine Landleihe gewährte, mit dessen Erträgen sie für Pferd und Waffen verantwortlich waren. Es gab den Ehrendienst der Ritter und den Knechtsdienst der Eigenen. Das Lehen hiess Beneficium oder Feudum. Ritter und Lehensgeber unterstanden der Fidelitas, dem Treueeid.

Die Lehensform war effizient, Herrscher, Ritter und Bauern waren symbiotisch aneinander gebunden und gegenseitig abhängig. Alle hatten Interesse an langfristigem Erfolg. Der Ritter, der seine Leibeigenen anständig behandelte, war erfolgreicher als jener, der sie ausbeutete. Der Herrscher war interessiert daran, dass die Ritter zu ihren Gütern Sorge trugen; nur mit wirtschaftlichem Erfolg konnten sie die teuren Rüstungen und Pferde erhalten. Und die Bauern schliesslich profitierten vom Schutz durch Ritter und Herrscher.

Karl der Dicke übernahm das Lehenssystem von Karl dem Grossen. Er wählte für den Weiler Wibichinga vor den Toren Turicums eine Form, bei der das Eigentum nach dem Tod des Lehensnehmers an die Kirche übergehen würde. Schon damals wusch eine Hand die andere: Ludwig der Deutsche, Vater von Karl dem Dicken, versah das Fraumünster im Jahr 853 mit Schenkungen. Zwei seiner Töchter, Hildegard und Bertha – also Schwestern von Karl dem Dicken –, waren Äbtissinnen am Fraumünster. Sie starben früh.

Karl der Dicke setzte 878 seine Gemahlin Richarda als Nutzniesserin des Fraumünsters ein. Es lag also nahe, die Schenkung des Weilers Wibichinga als späteres Erbe dem Fraumünster zu vermachen.

Im Jahr 881, kurz nach seiner Krönung zum Kaiser, schenkte Karl der Dicke seinem Getreuen Wolfgrim den Weiler Wibichinga. Vom Nutzniesser Wolfgrim wissen wir nichts; er war wohl ein Ritter in Karls Gefolge. Die Schenkung war eine Lehenschaft im Sinne Karls des Grossen.

Die Urkunde

Diese Urkunde ist erhalten geblieben. Sie misst 62×53 Zentimeter und wird im Zürcher Staatsarchiv aufbewahrt. Am «XI. kal Jun. im Jahr des Herrn DCCCLXXXI», nach heutigem Kalender am 22. Mai 881, setzte Karl der Dicke die Urkunde in Latein auf (gekürzt, Übersetzung von Jakob Frei):

Im Namen der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit. Karl, durch die göttliche Vorsehung erlauchter Kaiser.
Es sei allen unsern Getreuen zur Kenntnis gebracht, dass wir unserm Getreuen Wolfgrim etliche Gegenstände unseres eigenen Rechtes und Besitzes geschenkt haben zu gesicherter lebenslänglicher Nutzniessung, nämlich den Weiler, der Wibichinga heisst, mit allem, das rechtmässig dazu gehört, das ist: mit hörigen Leuten, mit Ackerfeldern, Wiesen, Wäldern, mit Gewässern und deren Ableitungen, mit gebautem und ungebautem Land, mit Beweglichem und Unbeweglichem, oder was irgend genannt werden kann. Und wir haben befohlen, dass er fortan lebenslang die oben genannten Gegenstände zur Nutzniessung besitze und dass niemand die Befugnis habe, diese Verfügung aufzuheben oder etwas daran zu ändern, sondern ihm zustehe, die oben genannten Sachen sicher zu besitzen behufs Vermehrung unseres Lohnes, dass aber nach seinem Tode alles in unversehrter Vollständigkeit an das Kloster Turegum zugunsten der Schwestern übergehen soll zu ewigem Besitz. Wenn aber irgendeiner diese unsere Bestimmung teilweise oder ganz ändern sollte, so ist ihm, dem Rechtsbrecher, eine Strafe von 1000 Mark puren Goldes aufzuerlegen.
Unterschrift des erlauchten Kaiser Karl III.
In Gottes Namen. Amen.

Der gute Wolfgrim wird sich gefreut haben über das tolle Geschenk. Ein ganzer Weiler mit Hörigen und schönen Töchtern.
Karl der Dicke wird in Geschichtsbüchern stets als etwas beschränkt hingestellt. Es steht im lateinischen Text allerdings einiges zwischen den Zeilen. Man lese also die Urkunde über den Weiler Wibichinga nochmals genau durch:

«…geschenkt haben zu (…) lebenslänglicher Nutzniessung…»

Das heisst: Der gute Wolfgrim kommt hier nicht mehr weg. Der Weiler Wibichinga wird sein Grab.

«…nämlich den Weiler, der Wibichinga heisst, mit allem, das rechtmässig dazu gehört, …»

Der Weiler gehört nicht Wolfgrim, sondern alles gehört zum Weiler. Das ist nicht das Gleiche.

«… Und wir haben befohlen…»

Klartext: Das ist kein Geschenk, das ist ein Befehl.

« … dass er fortan (…) zur Nutzniessung besitze …»

Es ist nicht sein Eigentum, er darf nur nutzniessen. Verkauft wird nichts, die Sachen bleiben hier.

« …wir (…) befehlen, dass (…) niemand die Befugnis habe, (…) daran zu ändern …»

Die Meinung Wolfgrims ist nicht gefragt. Er tut, was man ihm sagt.

« …dass er (…) besitze (…) behufs Vermehrung unseres Lohnes… »

Zinserträge gehen ans Kloster, die sind nicht Teil des Geschenks.

« …dass aber nach seinem Tode alles in unversehrter Vollständigkeit (…) an das Kloster (…) übergehen soll …»

Die Werterhaltung wird nicht vom Zinsertrag finanziert. Investitionen in Realersatz sind sein Problem.

« …mit Gewässern und deren Ableitungen… »

Das sind die Bäche und der Abfluss in die Limmat, aber ohne Limmat. Der Fluss gehört zum See, nicht zum Weiler. Vom Flussübergang und von der Fähre steht nichts im Text. Der Fischertrag ist also nicht Teil des Geschenks. Das Kloster kann die Fischrechte sonst jemandem verkaufen oder verpachten. Und der Fährertrag fällt auf der anderen Seite des Flusses an.

«Wenn aber irgendeiner diese (…) Bestimmung (…) ändern sollte, so ist ihm (…) eine Strafe (…) aufzuerlegen.»

Wolfgrim haftet solidarisch für den Zinsertrag des Gutes. Bleibt der Zins aus, ist die Busse fällig und anschliessend wird er geköpft.

Nach dem Lehensnehmer Wolfgrim ist heute der lauschige Bach benannt. Wir wissen nicht, wo er begraben ist. Seine Hörigen haben den Vertrag vielleicht besser verstanden als er selbst. Sie wussten: Der Weiler geht am Schluss unversehrt in die Hände des Klosters über. Die Hörigen pflegen ihre Höfe nur, wenn die schönen Töchter unbehelligt bleiben. Jedenfalls gab es keine Klagen des Fraumünsters über ausgebliebene Zinserträge, und der Weiler Wibichinga war bei Wolfgrims Ableben offenbar in gutem Zustand.

Zu allem Elend war Wolfgrim nun auch noch Diener dreier Herren. Dem Kaiser verpflichtet, dem Fraumünster verdingt und dem Grossmünster zu Dank. Der Kaiser verliess sich auf seinen Vertrag, das Fraumünster erfreute sich des Zinses und das Grossmünster wusste, dass Wolfgrim in seinem goldenen Käfig gefangen blieb. Der Weiler Wibichinga blühte unter Wolfgrim im 9. Jahrhundert auf. Kirche und Kaiser konnten zufrieden sein. Vielleicht war Karl der Dicke doch nicht so beschränkt.

Quellen

Diverse Geschichtsbücher,
Martin Bürlimann, Kurt Gammeter: «Damals», Wibichinga Verlag, 2023.

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